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marcello

Posted on 18.4.2021

Der Inhalt der Krähen-Dilogie, die hier mit "Das Lied der Krähen" startet, wird gemeinsam mit der Grisha-Trilogie zur neuen Netflix-Serie "Shadow and Bone" verflochten, was ich beim Lese natürlich im Hinterkopf hatte. Das ist jedoch etwas heikel, denn zeitlich spielen die Reihen eigentlich versetzt, aber gewiss nicht parallel. Deswegen ist bereits im Vorfeld klar, dass der Inhalt von "Das Lied der Krähen" wohl stärker abgeändert wird, damit sich eine schlüssige Verzahnung ergeben kann. Dennoch habe ich diesen Gedanken erstmal beiseitegeschoben und mich ganz auf das Lesevergnügen konzentriert. Relativ schnell bin ich beim Lesen von "Das Lied der Krähen" auf den Gedanken gekommen, dass es eigentlich fast nicht zu glauben ist, dass dieses und "Goldene Flammen" tatsächlich beide von derselben Autorin sein sollen, denn lustigerweise ergeben sich genau die gegensätzlichen Pro- und Kontra-Argumente in der Bewertung. Wo "Goldene Flammen" stellenweise oberflächlich war, sich aber kaum eine Pause gegönnt hat, ist "Das Lied der Krähen" teilweise langatmig, aber dafür enorm fokussiert und detailreich in der Charakterentwicklung. Aber dennoch wäre es gelogen zu behaupten, dass man Leigh Bardugos Stil letztlich nicht doch erkennt. Lustig ist es dennoch, dass ich nun komplett gegenteilige Rezensionen schreiben werden. Dank der Grisha-Trilogie ist mir diesmal der Einstieg in die Welt von "Das Lied der Krähen" nicht so schwer gefallen. Zwar findet die Handlungen an völlig neuen Orten statt, aber dennoch finden wir uns erneut in der erschaffenen Welt von Bardugo wieder, die von ständigen Kriegen, neuen Allianzen und eben den Grishas geprägt ist. Jedoch gibt es eine Erweiterung um das Jurda Parem, eine Art Droge, die Fähigkeiten der Grisha verändert und damit auch verstärkt. Es gibt auch wieder neue Begrifflichkeiten, aber in all das findet man gut hinein. Zumal sich bereits hier die Liebe zum Detail auswirkt, da Ketterdam als neuer Handlungsort förmlich vor den Augen entsteht, da alles intensiv und anschaulich beschrieben wird. Während "Goldene Flammen" in vielen Elementen noch eher einem Jugendroman entsprach, habe ich diesen Gedanken bei "Das Lied der Krähen" nicht mehr gehabt. Zwar haben wir es erneut nicht mit erwachsenen Figuren zu tun, aber die sechs Hauptfiguren sind bereits so vom Leben gezeichnet, dass sie die Bitterkeit des Lebens bereits kennen. Sie haben keine Träume mehr, stattdessen kämpfen sie in einer komplizierten Welt ums ständige Überleben und können daher keine Gutmenschen sind. Das schafft atmosphärisch eine ganz andere Ausgangslage, die aber dann auch ganz hervorragend zur sich entwickelnden Handlung passt. Das Geschehen wird aus mehreren Perspektiven erzählt, was es möglich macht, nahezu allen sechs Figuren ordentlich Raum zu gewähren. Einzig Wylan wird hier etwas stiefmütterlich behandelt, was ja möglicherweise im zweiten Band noch nachgeholt werden kann. Aber bei den anderen fünf wird eine höchst ambivalente Charakterentwicklung betrieben. Einzig Jasper ist davon eine Figur, die man auf Anhieb ins Herz schließt, weil er angesichts der düsteren Welt noch etwas Optimismus verbreitet. Die anderen sind zu sehr vom Leben gezeichnet und tragen ihr Innerstes nicht so offensichtlich nach außen. Aber man wird behutsam von Kapitel zu Kapitel tiefer in ihr Seelenleben hineingezogen und deswegen konnte ich nach Beendigung der Lektüre nur konstatieren, dass ich zu allen Figuren, so unterschiedlich sie doch waren, eine Verbindung aufgebaut bekommen habe. Das war Bardugo in dem Ausmaß bei "Goldene Flammen" noch nicht gelungen. Gleichzeitig hat diese Entscheidung für intensive Charakterentwicklungen den Nachteil, dass die Handlung stellenweise ausgebremst wird. Wenn gerade richtige spannende Sachen passieren, wird bei einem Teil des Kapitels ein Rückblick zu der Figur eingeschoben, die deren Handeln zwar erklärt, aber gleichzeitig das Geschehen in der Jetztzeit unnötig in die Länge zieht. In der Konsequenz hätte ich mich wahrscheinlich für einen etwas anderen Erzählstil entschieden. Im Grunde war alles richtig gemacht, aber vielleicht nicht immer ideal gegeneinander gesetzt. Wenn man die Rückblenden zwischendurch mal ausspart und nur die Handlung der Gegenwart bedenkt, dann muss ich schon den Hut vor Bardugo ziehen, denn es ist eine extrem raffinierte, komplexe, exzentrische und einfach mitreißende Geschichte entstanden, die immer wieder etwas Neues zu bieten hatte. Zudem hat es mir gefallen, dass das Buch trotz minimaler Gewichtung gegen Kaz und Inej es geschafft hat, allen Charakteren ihren Teil einzuräumen. Sie mögen die Gesichter sein, aber nur alle zusammen sind sie das Herz dieser Operation. Kaz sticht sicherlich mit seinem Mastermind heraus und es ist wirklich faszinierend, wie er eine Eventualität nach der anderen schon längst bedacht hat, aber jede Figur wird für ihre besonderen Momente in Erinnerung bleiben. Zudem hat es unheimlich viele Wendungen gegeben, man konnte die Geschichte zu keinem Zeitpunkt vorausahnen, was angesichts so vieler Bücher im Genre Fantasy eigentlich unmöglich erscheint. Das macht in der Summe eine der intelligentesten Handlungsentwicklungen aus, die ich seit langem gelesen habe. Fazit: "Das Lied der Krähen" ist atmosphärisch und stilistisch so ganz anders als die Grisha-Reihe, was aber nichts am Lesevergnügen ändert. Dieses ist schlichtweg anders, denn der Auftakt der Krähen-Dilogie überzeugt mehr mit Handlung, Charakterentwicklungen und Liebe zum Detail. Nach diesem echten Erlebnis kann ich ein gewisses Bauchgrummeln dennoch nicht leugnen, denn wie viel wird davon in "Shadow and Bone" zu erleben sein?

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