letterrausch
„Die Schlange von Essex“ ist Sarah Perrys zweiter Roman. Die englische Schriftstellerin, die kreatives Schreiben studiert und mittlerweile drei Romane veröffentlicht hat, erzählt hier von der jung verwitweten Cora Seaborne, die in einem kleinen Dorf in Essex ein zweites Leben nach dem ersten beginnt. Wir befinden uns im London des Jahres 1893. Cora hat gerade ihren gewalttätigen und erdrückenden Ehemann begraben und fühlt sich als frisch gebackene Witwe nun erstmals im Leben wirklich frei. Sie kann ihren unvorteilhaften Herrenmantel und dazu klobige Stiefel tragen, sie muss sich nicht schminken und vor allem kann sie sich ausführlich mit ihrem Interesse für die Wissenschaft beschäftigen. Als sie von dem Gerücht erfährt, dass an der Küste von Essex eine Seeschlange gesichtet worden sei, macht sie sich auf den Weg dorthin, fest entschlossen, das Tier zu finden. Doch sie findet nebenbei noch ganz andere Dinge. In einem kleinen Fischerdorf mietet sie sich ein Cottage und freundet sich mit dem Pastorenehepaar an. Er – belesen, weltgewandt und trotzdem gottesfürchtig – und sie – schwindsüchtig, zunehmend entrückt, aber eine warme und herzliche Person. Zwischen Cora und Pfarrer Will entspinnt sich erst eine Freundschaft und dann eine scheue Liebe. Doch währenddessen werden die Dorfbewohner immer abergläubischer, weil sie überzeugt sind, dass die Seeschlange Menschen tötet und das Dorf zerstören wird. Das ist allerdings nur ein Teil der Geschichte. Darüber hinaus geht es noch um Coras Assistentin, um ihren Arzt, um Handchirurgie und um sozialen Wohnungsbau. Ganz schön viel Stoff also, aber Sarah Perry behält immer die Oberhand. Der Roman gleitet nie in ein Referat ab, droht nie, in bloße Fakten abzurutschen und es ist eigentlich unglaublich, wie viele Themen und wie viele Charaktere Sarah Perry auf den Seiten unterbringen kann, ohne dass das Buch überfrachtet wirkt. Trotzdem sind alle Charaktere voll ausgearbeitete Figuren, mit denen man mitfiebert und mitfühlt. Niemand ist bloß Nebencharakter, vieles steht stattdessen gleichberechtigt nebeneinander. Sarah Perry hat sich während des Studiums viel mit der gothic novel auseinandergesetzt und dazu auch publiziert. Das merkt man diesem Roman an. Im Zentrum steht ein unglaubliches Ereignis – nämlich ein unbekanntes Tier, das die Küste von Essex zu terrorisieren scheint. Dieses Mysterium gilt es zu lösen. Auch wie diese Lösung aussehen wird, gibt die gothic novel vor und Sarah Perry hält sich an die Regeln des Genres. „Die Schlange von Essex“ ist eine Liebeserklärung an Romane gleicher Thematik, das lässt sich sowohl am übergeordneten Handlungsbogen als auch an kleinen Details ablesen. Grundsätzlich ist es kein Roman, der von seiner Action lebt – viel passiert nicht, Seeschlange hin oder her. Doch Sarah Perrys Art, Figuren zu beschreiben, ihre genaue Beobachtungsgabe und ihr Sinn für Details halten den Leser bei der Stange. Sowohl das Setting (London, Essex) als auch die Charaktere macht sie mit leichter Hand greifbar. Was sie schreibt ist unterhaltsam, doch wie sie schreibt, ist meisterhaft! „Die Schlange von Essex“ hat mich von Anfang an gepackt. Sarah Perry hat einen rundum gelungenen Roman geschrieben, dessen Charaktere lange im Leser nachhallen und in ihm arbeiten. Für mich ein Highlight meines bisherigen Lesejahres. Ich freue mich schon auf weitere Romane von ihr!