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Buchdoktor

Posted on 17.4.2021

Mary Calhoun führt in Fourty Miles im hohen Norden Kanadas den General Store. Der Laden ist zugleich Poststelle mit einem der wenigen Telefone der Gegend und letzter Posten der Zivilisation. In Richtung Norden ist der Fluss nur im Sommer per Boot zu überqueren oder wenn er vollständig gefroren ist. Während der Schneeschmelze dagegen sind die beiden Flussufer voneinander abgeschnitten. Mary wird aus nah und fern angerufen von Leuten, die sich ihre Post nach Fourty Miles senden lassen, aber sie lehnt es ab, Briefe zu öffnen und den Empfängern am Telefon vorzulesen. Dafür gibt es ein andere Lösung. 1982 kommt aus Vancouver die Silberschmiedin Sarah in den Ort, die sich in der Abgeschiedenheit darüber klarwerden will, welchen Weg sie beruflich einschlagen wird. Die rund 60-jährige Mary nimmt Sarah überraschend bereitwillig bei sich auf. Die junge Frau ahnt bald, dass Mary vor ihrer Zeit als Hüterin der Briefe ein interessantes Leben geführt haben muss. Fourty Miles zeigt sich der Besucherin zunächst von seiner spröden Seite. Die Leute munkeln, dass auf dem Ort der Fluch der Ersten Völker/Ureinwohner lasten muss; denn seit sich weiße Goldsucher hier niederließen, ist im Ort kein Kind mehr geboren worden. Man könnte sich fragen, wie eine so abgelegene Gemeinschaft von Einzelgängern funktionieren soll, wenn dort keine Paare mit Kindern leben und der General Store nicht das ganze Jahr über Umsatz macht. Auf einer Tour, die die Freunde Jacob und Adam mit Sarah in die Berge unternehmen, um ihr einen Blick auf die endlose Weite nördlich des Ortes zu ermöglichen, wird deutlich, dass Fourty Miles offenbar ein Fluchtpunkt für einsame und schwierige Menschen ist. Mit Abstand die schwierigste Person ist aktuell Adam, der mit seiner Rücksichtlosigkeit anderen gegenüber Sarah sehr ähnlich zu sein scheint. Auch Sarah wird von ihrer besten Freundin vorgeworfen werden, dass sie völlig blind gegenüber Anderen wäre und zunehmend kälter würde. Während einer Kanutour auf dem Fluss mit weiteren Einwohnern des Ortes wird aus der Geschichte der Goldsucher erzählt, man erfährt, wie Mary Calhoun und ihr verstorbener Mann Rick sich kennenlernten, und hört vom alten Musiker Walker, der eine besondere Beziehung zu Mary haben muss. Sarahs berufliche Entscheidung, den Schritt von der Kunsthandwerkerin „Torun“ zur Designerin eines weltbekannten Schmuckherstellers zu wagen, ist noch nicht das Ende der Geschichte. Zuvor ist das Dreiecksverhältnis zwischen Adam, Jacob und der Besucherin zu klären, Adam muss davor bewahrt werden, sich zu Tode zu trinken, bevor er seine Musikerkarriere an die Wand fährt, und Jacob zieht es dazu, endlich in seinem Beruf als Lehrer zu arbeiten. Sarahs Recherche in Bibliothek und Kunstmuseum nach Mary Calhoun als Künstlerin führt schließlich auf die Spur einer Künstlerinnenbiografie, in der Ähnlichkeiten mit Sarahs Selbstfindung am nördlichen Ende der Zivilisation zu finden sind. Die Schauplätze Forty Miles und Raven’s Nook sind ebenso von realen Orten inspiriert wie die Figur Sarah Torun Aysgarth von einer in den 30ern geborenen schwedischen Silberschmiedin. Sien Volders stimmungsvoll erzählter Selbstfindungsroman entwickelt sich mit dem Focus auf drei Figuren und in Rückblenden erst allmählich, konnte mich jedoch bis zum Schluss fesseln. Die Autorin nimmt ihre Leser mit an die Grenze zwischen Kanada und Alaska, wie auch auf eine Zeitreise ins Kassettenzeitalter der 80er, als Musiker ihre Stücke auf Tonträgern weitergaben. Ihr Roman lässt in zwei Generationen jeweils Künstler und Musiker an Wendepunkten ihres Lebens aufeinandertreffen; die jüngere Generation muss sich der Gemeinsamkeiten jedoch erst bewusst werden.

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