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daslesendesatzzeichen

Posted on 12.4.2021

Mattis ist eine Art Dorftrottel, etwas schwerfällig im Denken, unfähig, sich über längere Zeit zu konzentrieren, schüchtern, aber herzensgut. Seit dem Tod der Eltern vor vielen Jahren lebt er mit seiner großen Schwester Hege am Rand des kleinen Dorfes, irgendwo in Norwegen. Sie strickt und verdient so das bisschen Geld, das sie zum Überleben brauchen. Ab und an versucht auch Mattis sein Glück und fragt auf den umliegenden Höfen nach Arbeit. Alle wissen, dass er keine große Hilfe ist, aber manchmal gibt sich der eine oder andere Bauer einen Ruck und lässt ihn werkeln – als Lohn bekommt Mattis dann eine heiße Suppe und ein bisschen menschliche Zuwendung, was sein Selbstwertgefühl wachsen lässt. Während Mattis der Träumer ist, ist Hege ein harter Brocken, der sich selten zu Emotionen hinreißen lässt. Sie muss das Ruder in der Hand behalten, sonst funktioniert die kleine Wohngemeinschaft nicht. Oft genug ist sie frustriert, weil sie weiß, dass sie durch Mattis unfrei ist, er ihr immer wie ein Klotz am Bein hängen wird. So hat sie keine Perspektive auf ein eigenständiges Leben und er hingegen ist oft verletzt, ob ihrer Gefühllosigkeit ihm gegenüber. Mattis schaut den Vögeln zu, beobachtet die Natur und taucht ein in seine eigene Gedankenwelt. Er entdeckt die Flugbahn einer Waldschnepfe, einem Vogel, der es ihm besonders angetan hat, und freut sich, dass dieses Tier nun ausgerechnet immer über sein Haus fliegt. Früher hat das Vögelchen den Balzflug an einer anderen Stelle absolviert, es muss an ihm liegen, denkt Mattis, die Waldschnepfe möchte ihm offensichtlich etwas damit sagen. Dieses Gefühl, wichtig für ein Lebewesen zu sein, und sei es auch nur ein Vögelchen, ist wichtig für den schüchternen Mattis. Es sind die kleinen Dinge, die ihn froh machen. So auch, als er einmal zwei Mädchen über den See schippern kann – eine Aufgabe, die ihn so voller Stolz erfüllt, dass er wochenlang von nichts anderem mehr reden oder träumen kann. Er beschließt, von nun ab als Fährmann zu arbeiten am See. Doch trotz seiner täglichen Präsenz gibt es es nie Kundschaft – nur ein einziges Mal! Er darf einen Fremden über den See rudern und weil sein Boot leckt und der Fremde mithelfen muss, bietet Mattis ihm an, dass er die Nacht bei ihnen verbringen kann – denn der Fremde sucht hier Arbeit und hat noch kein Zuhause. Diese Begegnung ist schicksalhaft, denn der Holzarbeiter Jørgen bleibt nicht nur über Nacht, sondern er geht gar nicht mehr weg. Und nach und nach erfährt Mattis von Jørgen und Hege, dass er für immer bleiben wird, denn die beiden sind ein Paar geworden. Zum ersten Mal in ihrem Leben ist Hege ihrem Bruder für etwas unendlich dankbar und sie umarmt ihn sogar vor Freude – aber dennoch ist es für Mattis ein Wendepunkt, denn nun ist er sprichwörtlich das dritte Rad am Wagen, fühlt sich noch unnützer als zuvor und muss sich zusätzlich mit der Natur und ihren Irrungen und Wirrungen arrangieren lernen. Die Waldschnepfe wird abgeschossen, er erlebt ein fürchterliches Gewitter, bei dem das passiert, was er am meisten fürchtet, nämlich, dass der Blitz einschlägt – und Mattis wird immer verwirrter, denn sein Weltbild gerät immer mehr aus den Fugen. Der bereits 1970 verstorbene Norweger Tarjei Vesaas ist in seinem Heimatland eine große Nummer: Er wird als einer der wichtigsten Autoren des 20. Jahrhunderts gehandelt und war mehrfach für den Nobelpreis vorgeschlagen – den er schlussendlich jedoch nie erhielt. In Deutschland wird der weitgehend Unbekannte nun durch den kleinen Berliner Guggolz-Verlag einem breiteren Publikum zugänglich. Der Verlag schreibt sich als Alleinstellungsmerkmal auf die Fahnen: „Mit Neuübersetzungen und Neuausgaben vergessener und zu Unrecht aus dem Fokus geratener Werke richten wir uns an diejenigen Leser, die bei ihrer Lektüre bereichert werden wollen.“ Für diese rühmliche Arbeit wird der Verlag, seit er auf der Bildfläche erschienen ist, mit Preisen und Auszeichnungen überhäuft, so gerade im letzten Jahr mit dem Deutschen Verlagspreis (zum zweiten Mal in Folge). Und das zu Recht. Das kurzweilige Buch „Die Vögel“ ist eine kleine literarische Delikatesse, denn Vesaas beherrscht es in Perfektion, den simplen, schlichten Geist des Außenseiters Mattis in Sprache zu gießen. Das ganze Buch hat einen eigenwilligen Duktus, der bis ins Detail auf den einfachen Bauernsohn zugeschnitten ist. Wir schlüpfen also schon durch die literarische Form ins Gedankengebäude dieses Mannes. Bilder erscheinen durch diese wortgewaltige Sprache vor den Augen des Lesers und die Landschaft gewinnt merkwürdig an Haptik, als würde sie durch Mattis Beschreibungen plastisch vor einem entstehen. Auch wenn das Ende ein anderes ist, als ich es mir gewünscht hätte, ist es wahrscheinlich nur logisch und in sich schlüssig – und so kann ich nur jedem, der Freude an schöner Sprache, an außergewöhnlichem Geschichtenerzählen und atmosphärischem Skandinavien-Flair hat, empfehlen, diesen Autor genauer unter die Lupe zu nehmen. Bei Guggolz ist von ihm auch noch der Titel „Das Eis-Schloss“ erschienen.

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