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«Ich sagte meiner Mutter auf dem Heimweg, welches Wort ich gehört hatte kurz vor dem Stoß. Ich fragte, was es bedeutete. Es ist ein Schimpfwort, sagte sie. Aber du kannst nicht gemeint sein. Du bist Deutsche.» Industrieschnee markiert die Grenzen des Orts, eine feine Säure liegt in der Luft, und hinter der Werksbrücke rauschen die Fertigungshallen, wo der Vater tagein, tagaus Aluminiumbleche beizt. Hier ist die namenlose Ich-Erzählerin aufgewachsen, hierher kommt sie zurück, als Freunde aus der Kindheit heiraten. Im Westen von Frankfurt, irgendwo zwischen Flughafen und Industriepark Höchst wohnt die Familie in einer Mietwohnung, der väterliche Opa lebt im gleichen Haus. Letzterer ist ein Messi, die Schränke vollgestopft, nicht einmal völlig zerschlissene Kleidung kann er wegwerfen. Seine Handtücher fadenscheinig, genauso wie seine Hemden, auf denen man die ehemaligen Streifen nur noch erahnen kann. Der Vater ist nicht besser, häuft nutzlose Dinge in Schränken, kann nichts wegschmeißen, beim Einkauf landen Schnäppchen im Korb, alles, was man irgendwann mal gebrauchen könnte, kleine Elektrogeräte, Spielzeugautos, Badvorleger, Weihnachtsdeko, alles, was man für einen oder zwei Mark bekommen kann. Die Mutter war mutig, war der Dorfkultur am türkischen Schwarzmeer entflohen, eine Welt ohne Strom und fließend Wasser. Hoffnung auf ein besseres Leben hat sie in diese Arbeitersiedlung verschlagen. Sie fristet als Reinigungskraft an der Seite eines Alkoholikers ihr Leben, der im Rausch gewalttätig wird, versucht Ordnung in die zugestellten Wohnungen von Schwiegervater und Mann zu bringen, Wohnungen, die niemand betreten darf. «Besuch, das waren Fremde, die in unser Versteck eindringen wollten, gegen die man das Haus verteidigen musste, indem man die Eingangstür zweimal abschloss und die kaputten Rollläden nicht reparierte, weil es gut passte, dass sie die Sicht in die Zimmer versperrten.» Die Erzählerin hört als Kind gerne zu, wenn die Mutter aus dem Dorf ihrer Kindheit berichtet, von Ziegen und Schafen. In der Schule lernt sie schnell, dass sie diesen Teil ihrer Familie nicht erwähnen darf. Ein Lehrer fragt sie sogar, ob Deutsch ihre Muttersprache sei. Sie war niemals in der Türkei, spricht kein Türkisch, eine Frage, die tief sitzt. Urlaub kennt sie nicht, nur den der anderen, die sonnengebräunt nach den Sommerferien davon berichten. Ihre Freundinnen haben die angesagten Turnschuhe, modische bauchfreie Shirts, treiben Sport, ihre beste Freundin nimmt Reitunterricht. Sie werden von den Eltern gefördert. Die Freundinnen darf man besuchen, zu ihr nach Hause darf niemand kommen. Die Mutter hat es gelernt, still und anpassungsfähig zu sein, rät der Tochter, es ihr gleichzutun. Einen Ansporn für die guten Schulleistungen gibt es nicht. Auch in der Schule bekommt sie kaum Unterstützung von den Lehrern – man fragt sich eher, was so eine auf dem Gymnasium will. Das Stigma der falschen Herkunft, das ausgrenzt, abblockt, wo Beistand nötig wäre, aufmunternde Worte. Im Gymnasium wird sie als Fremdkörper ausgesiebt. Sie macht eine Ausbildung und holt das Abitur später in der Abendschule nach, wo man ihr wieder erzählt, das sie dort nicht hingehört. Und gleich zu Beginn des Unterrichts ist das Thema Identität zu bearbeiten – etwas zu dem unserer Erzählerin nichts einfällt: «Woher stammt deine Familie zum Beispiel?›, fragte die Lehrerin. ‹Du bist deutsch, oder?›, sie fragte es in sich vergewisserndem Tonfall, du kommst mir normal vor. Noch immer sah sie mich mit runden Augen an; sie wollte mir helfen. ‹Meine Mutter kommt aus der Türkei›, sagte ich. ‹Ach so, na guck mal, siehst du! Da hast du doch was! Du fühlst dich aber gut integriert, oder?› » Die Icherzählerin bleibt zwar namenlos, aber wir erfahren, sie findet den Vornamen in keinem Lesebuch, auf keiner Tasse, auf keinem Souvenir – im Gegensatz zu den anderen Kindern. Sie ist ein Niemand. Sie ist alles das, was die anderen auch sind – aber ein Stück, fehlt ihr, genau das Stück, das man ihr täglich vor die Nase hängt, unterschwellig oder direkt. Man grenzt sie nicht direkt aus, es sind die täglichen Sticheleien, Stigmatisierungen, die die anderen nicht wahrnehmen, die die Erzählerin aber ins Herz treffen. Woher kann eine wie sie so gut Englisch? Ein leiser Roman, der niemals mit Wucht oder Wut anklagt, sondern in distanzierter Weise einen Rückblick auf das Leben an dem verhassten Ort zeigt. Ein Bildungsroman, der verdeutlicht, wo das Problem unseres Schulsystems liegt, das Problem in der Gesellschaft. Deniz Ohde zeigt nicht mit dem Finger darauf, sondern erinnert über Situationen aus ihrer Kindheit der Protagonistin, die in ihre Gefühle eingebunden sind. Und das geschieht mit einer markigen Reserviertheit, weit weg, in einen Panzer verpackt. Ein starker Charakter, der trotz aller Widrigkeiten seinen Weg geht. Sprachlich fein und genau hinblickend auf die Mosaiksteine – ein Mädchen, das eigene Vokabeln erfindet, um sich zurechtzufinden. Jeder Satz ist geschliffen, ein Vergnügen für den Lesenden. Nicht umsonst stand dieser Roman auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. Deniz Ohde, geboren 1988 in Frankfurt am Main, studierte Germanistik in Leipzig, wo sie heute auch lebt. Für ihren Debütroman Streulicht, der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis stand, wurde sie mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung und dem aspekte-Literaturpreis 2020 ausgezeichnet, sowie mit dem «Das Debüt» Bloggerpreis für Literatur 2020 und stand auf der Shortlist für «Text & Sprache» 2021.