jankuhlbrodt
Eine der ersten Platten, die ich mir selbst kaufte, war eine Jazzplatte mit zwei markanten Frauenstimmen. Ich kaufte sie aufgrund des Titels eines Liedes, und weil ich als alternativ eingestellter Sachse auf Blues stand. Der Song hieß „Lady sings the Blues“ und war von Billie Holiday eingesungen. Die andere Sängerin, die auf der B-Seite war Ella Fitzgerald. Eine der beiden Frauen berichtete, dass sie, weil sie schwarz war, den Lastenaufzug benutzen musste, um zu einem Auftritt zu gelangen, weil der offizielle Eingang für „farbige“ verboten war. Das stand auf dem Plattencover. Es war um 1980 herum, dass ich die Platte zum ersten Mal hörte, in den Tiefen der DDR; der Blues galt mir und vielen meiner Freunde, als eine Art Ausweg aus der ostdeutschen Plattenbautristesse. Ich schreibe das, weil es nicht zuletzt die Abbildung der singenden Holiday auf dem Schutzumschlag war, die mich dazu bewegte, das Buch zu lesen. Abgesehen davon kannte ich schon einige Texte von Christina Maria Landerl einerseits aus der Literaturzeitschrift Edit, aber auch weil ich, wie sie, am Deutschen Literaturinstitut studiert habe und später hin und wieder dort unterrichtete. Es ist also alles andere als Zufall, dass ich die letzten beiden Tage damit zugebracht habe, dieses Buch zu lesen. Und merkwürdiger Weise, oder tragischerweise, passt es sowohl in die fünfziger und siebziger Jahre, aber es ist auch von brennender Aktualität, einerseits angesichts der, der Tötung von Schwarzen durch Polizeigewalt, von sexistischer Diskriminierung und dergleichen und der wachsenden Sensibilität dafür, aber auch der merkwürdigen Identitätsdogmen wegen, die derzeit durch den linken Diskurs wabern, der sich ja eigentlich als emanzipatorischer versteht. Das schmale Buch von Landerl heißt „Alles von mir“ ist im Müry Salzmann Verlag erschienen und beschreibt eine Reise in einem kleinen grauen Auto durch südliche Staaten der USA mit dem Ziel New Orleans. Immer wieder tauchen große Flüsse auf, die mal der Mississippi sind und manchmal nicht. Die Landschaft ist karg und die billigen Hotelzimmer werden immer wieder mit dem gleichen Satz beschrieben. Am Anfang des Buches, findet die Protagonistin in einem Hotelzimmer ein Buch, das die Vorbesitzerin Tanya, eine Schwarze, mit Markierungen und Anstreichungen versehen hat. Dieses Buch wird sie während der ganzen Reise begleiten, ob sie es abends im Hotelzimmer liest, oder ob Karin, eine schwedische Mitfahrerin, die sie im zweiten Teil, unterwegs aufgelesen hat, ihr während der Fahrt vorliest. Die Schwedin übrigens ist frisch einer Liebesbeziehung entkommen und auf dem Weg, eine Karriere als Countrysängerin zu versuchen. Das Buch ist die Autobiographie von Billie Holiday. Mit Hilfe dieses Settings verwebt Landerl Biografie- und Zeitebenen. Aber auch die Erfahrungsräume schwarzer und weißer Frauen in Europa und den USA. Dass Diskriminierung fortwirkt, auch wenn ihre Gesetze juridisch zum großen Teil aufgehoben wurden, schildert Lander eindringlich klapp in einer Episode vor dem Civil Rights Institute, an dem es aus dokumentarischen Gründen nach wie vor zwei alte Trinkbrunnen und zwei Eingänge gibt. Einer jeweils für „Weiße“ und einer für „Farbige“. „Ich will nicht durch diesen Eingang gehen, denke, niemand muss und soll dieser Ordnung mehr folgen, ich nicht, niemand von uns, und nehme den anderen, was sich auch falsch anfühlt, wofür ich mich sofort schäme.“ Auf dieser Fahrt sieht man die Momente weißer Diskriminierung überall noch eingeschrieben, nicht nur als Dokument, so wie sie sich im Soundtrack finden, den man sich auf spotify herunterladen kann. Die einzelnen Titel sind auch auf den entsprechenden Seiten im Buch vermerkt. Und sie sprechen nicht nur von rassistisch diskriminierenden Strukturen, sondern auch die schwarze und die weiße Männergesellschaft haben sich in Landschaft und Texte eingeschrieben. Immer wieder aber taucht ein musikalisches Phänomen auf, dass im Blues selbst zu liegen scheint. Auch wenn die Texte Gewalt und Diskriminierung beschreiben, werden die Beschreibungen musikalisch konterkariert, als läge in der Kunst, der Melodie, dem Gesang so etwas wie ein Ausweg aus der Tristesse. Oder zumindest das Moment, aus dem die Frauen die Kraft ziehen, zu widerstehen. Abgesehen von dem allen, oder gerade dadurch ist „Alles von mir“ ein Buch, das mich als Leser fortriss, wie der Mississippi so einiges bei seinen jährlichen Hochwassern fortreißt.