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Buchdoktor

Posted on 31.3.2021

In Melodys Familie wurde Bildung schon immer geschätzt. Ihre Großmutter Sabe war während ihres Studiums Mitglied einer angesehenen Studentinnenverbindung, ihr Großvater hatte studiert und beeindruckte die Familie mit seinem Klavierspiel. Über Generationen waren die Töchter im Rahmen eines Debütantinnenballs in die Gesellschaft eingeführt worden, eine Demonstration der Klassenzugehörigkeit in der gebildeten schwarzen Community. Als Melody ihrem Ball entgegenfiebert, wird ihr bewusst, dass in der Generation zuvor ihre Mutter Iris das Ritual übersprungen hat – Iris‘ Ball-Kleid wurde ungetragen an Melody vererbt. „Weil sie nicht Familienerbe ist“, kommentiert die Großmutter nüchtern den Kratzer im Lack ihres Ansehens. Tatsächlich wurde die 1969 geborene Iris als 15-Jährige ungeplant von Aubrey Daniels schwanger. Auch Aubreys Mutter wurde bereits als Schülerin schwanger. Dass der Junge die dunklere Hautfarbe seines früh verstorbenen Musiker-Vaters erbte, hat sein Leben in bitterer Armut zusätzlich unnötig kompliziert. Erst durch Iris erlebt sich Audrey als arm und schämt sich dafür. Dass Iris Familie ihn als Partner ihrer Tochter ablehnt, wundert nicht. Iris bringt ihre Tochter zur Welt und verfolgt zielgerichtet ihr Literaturstudium. Das Kind ziehen Aubrey und die Großeltern auf. Die Oma wird zur „Great Mama“, Melodys leibliche Mutter zur Besucherin „Iris“, die offenbar wenig Wert legt auf den Kontakt zu ihrer Tochter und deren Vater. Das Oberlin College ist nicht nur geographisch weit entfernt von Brooklyn, Iris fühlt sich als Mutter eines Kindes von Beginn an anders, reifer als andere Studenten. Doch ihre Mutterschaft einfach hinter sich zurückzulassen, von dieser Illusion muss Iris sich schon bald verabschieden. Melodys und Iris Geschichten entfalten sich jedoch erst vollständig, als Großmutter Sabe und Großvater Po’Boy zu Wort kommen. Woodsons Leser erfahren, warum Schwarze nur überleben konnten, wenn sie nicht sesshaft wurden – und was diese Erfahrung mit Iris Schicksal zu tun hat. Aus der Sicht der IcherzählerInnen erzählt Jacqueline Woodson abwechselnd die an sich banale Geschichte einer ungeplanten Schwangerschaft, die sich für die Beteiligten zur Klassen- und zur Rassenfrage entwickelt. Die Verbindung der drei Generationen erschließt sich erst in zahlreichen Rückblenden, durch sehr lebendige Auseinandersetzungen mit Diskussionspartnern innerhalb dieser Rückblenden und dem Wechsel aus IcherzählerInnen (Melody, Sabe, Großvater Po’Boy) und neutraler Erzählerstimme. Dass ich Iris Geschichte entwirren musste, um den Mutter-Tochter-Konflikt zu verstehen, ließ mich eindringlich mit Melody fühlen, die sich ihre Familiengeschichte ja auch erst zusammenpuzzeln musste. Dass noch 1984 Jugendliche so ahnungslos von ihrer Sexualität überwältigt in eine Schwangerschaft stolperten und wie vor gerade mal 35 Jahren Rasse und Schicht ein Leben dominieren konnten, hat mich überwältigt. Jacqueline Woodson erzählt die Geschichte des 21. Jahrhunderts neu. Ein ungeheuer spannender Plot, mit Sicherheit eins meiner Highlichts 2021.

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