sabinescholl
Neulich sah ich im TV den Film Nachtzug nach Lissabon, nach einem Roman über das Buch eines fiktiven Autors. Eigenartige Verschiebungen finden mit dieser Adaption statt. Es beginnt damit, dass sich ein Schweizer Philosoph einen portugiesischen Autor ausdenkt, den es nie gab. Seine Weisheiten schreibt dieser Dichter am Atlantikstrand in ein Schulheft. Sie klingen wie abgekupfert vom echten portugiesischen Dichter Fernando Pessoa. Dazu erfindet der Philosoph aus Bern einen Schweizer Lateinlehrer, der sich in das fiktive Buch verliebt und deshalb in einen Zug nach Lissabon steigt. Magischerweise sprechen dann dort alle seine Sprache. Immer wieder sieht man aber im Film den Titel des Buches auf portugiesisch eingeblendet. Das irrwitzigste jedoch ist das Dornröschenmotiv, das weder von Literatur- noch Filmkritik je erwähnt wurde: Ein Schweizer kommt Geschehnissen um die portugiesische Diktatur und der Revolution von 1974 auf die Spur, die den Einheimischen, die damals davon betroffen waren, nie eingefallen wären zu erforschen. Sofort nach seiner Ankunft in der Hauptstadt trifft der Held wie nebenbei alle Beteiligten eines Dramas, die ihm bereitwillig alles erzählen, was er wissen möchte. Sie haben Jahrzehnte darauf gewartet, dass Herr Bieri, so heißt der Philosoph, der als Autor unter dem Namen Pascal Mercier firmiert, dessen Bestseller die Vorlage zum Film bildete, endlich die Verwicklungen rund um die Nelkenrevolution entwirrt. Die Einheimischen gieren förmlich danach, dass endlich ein Ausländer fragt, was damals tatsächlich geschehen war, Geheimpolizei, Folter, Widerstand gegen die Diktatur inklusive. Kein Portugiese hat vorher geschafft, was dem Philosophen aka Lateinlehrer aus Bern innerhalb von ein paar Tagen gelingt. Denn der einstige Revolutionär ist zufällig der Onkel der Augenärztin, die er aufsucht, weil seine Brille kaputtgegangen ist. Der arme Revolutionär lebt in einem Heim, das einem Luxushotel gleicht. Auch er findet den Schweizer sympathisch. Der will eigentlich gar nichts über Politik wissen, sondern nur erfahren, wie der Autor jener Sätze, die er so bewundert, gelebt hat. Die Zuseher ahnen, dass diese genialen Zeilen tatsächlich vom Berner Philosophieprofessor stammen und dass er sich mit dem Roman ein Vehikel für seine Weisheiten geschaffen hat. Indem er sie einem geheimnisvollen und gutaussehenden Portugiesen zuschreibt, klingen sie bedeutsamer als ohne diese Verkleidung. Das Irrste der Verfilmung ist jedoch das Casting. Der Schweizer wird von einem Engländer gespielt. Die Lissabonner Augenärztin ist eine deutsche Schauspielerin. Sogar der geniale portugiesische Dichter ist Engländer. Alle Hauptrollen sind entweder Engländer oder Deutsche. Nur die bösen und fiesen Geheimdienstler sind Portugiesen. Vielleicht wurden so Kosten für die Synchronisation gespart. Das einzige, was echt ist, ist die Stadt Lissabon. Auch die Kostüme sind ziemlich gut. Die Ausstatter haben Fotos und Filme aus Zeiten der Revolution genau studiert. Sie haben helle Blousons besorgt, Schiebermützen und dunkle Hosen mit Schlag. Wenn also August Diehl als portugiesischer Widerständler nachts verloren nach einer Razzia auf dem Pflaster steht, wölben sich die Enden seiner Hosenbeine historisch korrekt über seine Schuhe. Er ist verzweifelt. Nicht weil die Vorbereitung der Revolution so schwierig ist, sondern weil sein bester Freund gerade seine Freundin küsst. Auch habe ich mich über die dunkelroten Zigarettenpackungen der portugiesischen Eigenmarke SG sehr gefreut. Außerdem musste in diesem Film unbedingt Lena Olin eine verschwundene Widerstandskämpferin spielen. Ihre Qualifikation für Verwirrung stiftende schöne Frauen in repressiven Systemen hatte sie einst mit der Verfilmung des Bestsellers eines Prager Dissidentenschriftstellers erworben. Ein wahrlich genialer Schachzug des Casting-Direktors! Welche Sehnsüchte werden also mit diesem Buch, diesem Film bedient? Die Sehnsucht nach dem Süden, nach einem Ausweg aus der eigenen langweiligen Existenz, die Sehnsucht nach philosophischen Gesprächen mit dem unvermeidlichen Bruno Ganz, die Sehnsucht danach, dass auch in der Fremde die eigene Sprache gesprochen wird und dass man sich in einem anderen Land plötzlich ganz heimisch fühlt, die Sehnsucht, dass es sogar einer Diktatur letztlich um Eifersucht und unerwiderte Liebe geht, die Sehnsucht, dass ein Schweizer der ganzen Welt die portugiesische Revolution erklärt, die Sehnsucht, dass alle ständig voller Sehnsucht sind, die Sehnsucht, dass ein übersechzigjähriger Lehrer von einer mindestens 20 Jahre jüngeren Südländerin begehrt und bewundert wird und dass er durch sie was Besonderes wird. Bonus: Sie stellt sich dann ohnehin als deutsch heraus! Und warum habe ich mir das alles überhaupt angesehen? Weil ich selbst einige Jahre in Portugal und Lissabon verbracht habe, weil ich gerade wegen der Reiseunmöglichkeit nicht in den Nachtzug steigen kann, stattdessen beginne zu imaginieren und mich in diesem Ersatz-Lissabon zu verstricken. Aber keine Angst, ich werde nie einen gefakten Pessoa-Roman verfassen. Ich schwör‘s! Oder vielleicht doch?