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sabinescholl

Posted on 16.3.2021

Zwei Welten stehen sich im Roman „Vati“ gegenüber: Die harte Wirklichkeit einer Familie von Außenseitern, in der Kinder die schwächsten Glieder bilden, und die Welt der Bücher, die zumindest zeitweise eine Ausflucht bietet. Die Herkunftsfamilie von Autorin Monika Helfer zählt zu den Ärmsten der Nachkriegsgesellschaft. Ihre Großmutter väterlicherseits war eine ledige Magd, geschwängert vom Bauern, bei dem sie arbeitete. Als ein vermögender Nachbar ihrem Sohn den Zugang zu seiner Bibliothek öffnet, erahnt der Junge aus der Lektüre ein besseres Leben. Tochter Monika ist ihm in der Büchersucht, in der Liebe zur Sprache und zur Genauigkeit des Ausdrucks bereits als Kind eine Verbündete. Der Vater liebt Bücher auch als wertvolle Objekte und hasst billige Taschenbuchausgaben. Vorlesen gilt als Liebesbeweis. Vorlesestunden im Kreis der Familie schafft eine Verbundenheit, die dem höchsten Glück sehr nahekommt, heißt es einmal. Den Grund für seinen Bücherwahn erfährt die Tochter erst später: „Alles wirklich Wichtige kann er nicht sagen. Er muss ein Buch dazwischenschieben.“ Als Vati und Mutti sollen die Nachkommen ihre Eltern ansprechen, weil das besser in die moderne Zeit passt und sich gegenüber den altmodischen Papa- und Mamasagern absetzt. Da der kriegsversehrte Vater ein Kriegsopferheim am Berg leitet, lebt die Familie doppelt ausgegrenzt. Denn auch die Invaliden sind Außenseiter: „Einbeinige, Einarmige, Hustende, Männer im Rollstuhl, Einäugige mit Seeräuberbinde, Blinde mit weißem Stock, Stumpfsinnige, Verlorene, Abgeschobene, Vergessene. Solche, die man nicht gerne sah. Weil sie an den Krieg erinnerten. Die im Weg standen.“ Als schließlich der Vater fast stirbt – Bücher spielen als Auslöser für den missglückten Selbstmordversuch eine Rolle - und die Mutter in Depression versinkt, muss Monika die Flüchtigkeit der Existenz bereits als Kind erfahren. Überhaupt ist der Tod immer nahe, die Bereitschaft dieser Ausgegrenzten, sich durch Selbstmord freiwillig aus der sie ablehnenden Gesellschaft zu entfernen, groß. Scham ist dann das Gefühl, das die Tochter während des Begräbnisses der Mutter, die an Krebs gestorben ist, vor allem empfindet. Scham über die Armut, die Schäbigkeit ihrer Kleidung, die Umstände, die sie mit dieser schwierigen Familie anderen bereitet. „Es war dieses Gefühl, als ob man mich bei etwas Unrechtem erwischt hatte.“ Aber es beherrscht sie auch Angst, dass sich keiner um sie kümmern wird, dass sie und ihre Geschwister völlig ungeschützt gegenüber den Feindseligkeiten der anderen sind. Sie müssen immer dankbar für das wenige sein, dass sie bekommen, fühlen sich überflüssig und unwillkommen. Die Armut manifestiert sich durch räumliche Enge und Zigarettenrauch, aber auch Nähe, verdeutlicht durch den Geruch von Achselschweiß. Dennoch: „Es grauste mich nicht. Es war Familiengeruch.“ Trotz allem garantiert die Tuchfühlung familiäre Zugehörigkeit. Aber wenn sie nicht gehorchen, laufen die Kinder Gefahr diesen Halt zu verlieren: „Jetzt gehören wir zu niemandem, endgültig zu niemandem.“ Sogar der Vater mahnt: „Euch gehört garnichts.“ Nicht einmal die Kleidung, die sie tragen. So wie seine Mutter, die Magd, ihr Kleid von der Frau des Bauern nur geliehen bekam. Sie besaß nichts Eigenes. Während Helfer im vorhergehenden Roman „Die Bagage“ Erinnerungen der Großtante als Basis für eine Erzählung über die Großeltern-Generation verwendete, kann sie in „Vati“ ihren eigenen Erinnerungen folgen. Auch diesmal thematisiert Helfer Rekonstruktionsprozesse. Sie will z.B. müde werden, weil im Zustand der Halbschläfrigkeit das bewusste Nachdenken ausgeschaltet und das unwillkürliche Erinnern angeregt wird. Vieles wird im Dialog mit den Erinnerungen ihrer Schwester Gretel zu Tage gefördert, und die Stiefmutter legt über ihre Beziehung zum Vater selbst Zeugnis ab. Obwohl die Erzählerin in „Vati“ nichts Schlimmes auslässt, ist es ein liebevolles, kein zorniges Erinnern, eher eine nachträgliche Verwunderung über die unerträglichen Demütigungen, die man als Mitglied einer verachteten Klasse ertragen muss. Später, als Monika längst Schriftstellerin ist, schreibt der Vater sozusagen mit, sie hört seine Stimme, wenn sie ihre Sätze formt. Helfer findet im Roman ein wunderbares Ende für den Bücherliebenden, das hier nicht verraten werden soll. „Vati“ erinnert an einen Menschen, ohne den die Autorin nicht wäre, was sie heute ist.

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