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thelidel

Posted on 13.3.2021

Zwei unterschiedliche Lebenswege – faszinierend, hoffnungsvoll, ernüchternd Ab dem Jahr 1902 begleitet der Roman zwei Frauen auf ihren verschiedenen und jeweils sehr beeindruckenden Lebenswegen. Marie Rosenberg, die als Tochter eines jüdischen Buchhändlers in stabilen und behüteten Verhältnissen aufwächst und Tina Modotti, die in ärmlichen Verhältnissen mit ihrer Familie ums Überleben kämpfen muss. Sie muss früh die Schule abbrechen, um Geld zu verdienen und emigriert bald in die USA, um sich ein neues Leben aufzubauen. Dort verschreibt sie sich dem Kommunismus und versucht zunächst mit Worten und später mit Taten die Revolution ins Rollen zu bringen. Marie und ihre Familie haben mit ihrer Religion nicht mehr viel zu tun, sie definieren sich als Deutsche und nicht als Juden. Ihr Traum ist es eines Tages Ärztin zu werden, jedoch kann sie nie den elterlichen Zwängen entfliehen und muss die Buchhandlung des Vaters weiterführen. Tina kämpft überall aktiv gegen den Faschismus an und begibt sich selbst in große Gefahren. Marie versucht dem aufkeimenden Nationalsozialismus solange es geht die Stirn zu bieten. Der Roman zeichnet das Bild zweier Welten, zweier verschiedener Frauen, die für ihre Überzeugungen leben und einstehen. Bevor ich jedoch das Buch überhaupt aufschlug, musste ich mich etwas wundern. Mehr als fragwürdig fand ich das Zitat auf dem Buchrücken, welches das Buch als literarische Grundlage von „Babylon Berlin“ anpreist. Es gibt jedoch bereits diese literarische Grundlage, da „Babylon Berlin“ ja auf den Büchern von Volker Kutscher basiert. Mehr als gewisse Überschneidungen in der Zeit, in der dieser Roman hier und die ganze Reihe Kutschers spielt, sehe ich auch nicht wirklich. Zudem möchte ich auch nicht im Imperativ zum Lesen aufgefordert werden, aber nun gut, das hat nichts mit dem Inhalt des Buches zu tun und kann nicht als Kritik an diesem gewertet werden. Jetzt zum eigentlichen Inhalt: Die Idee des Romans finde ich sehr gelungen. Oft ist einem gar nicht klar, dass auch in anderen Teilen der Welt bzw. Europas schrecklichste Zustände und Regime geherrscht haben, was man oft durch die Fokussierung auf den Nationalsozialismus außer Acht lässt. Es animiert, die Dinge auch aus anderen Perspektiven zu sehen und zu überdenken. Außerdem macht einem der Roman ganz deutlich bewusst, dass Revolution, auch schon im Kleinen, auf so viele verschiedene Arten möglich ist. Das Zeitgeschehen wird sehr lebendig und authentisch dargestellt, man kann sich gut in die jeweiligen Zeitabschnitte, in die der Roman aufgeteilt ist, hineinversetzen. Der Autor verwebt die Erzählstränge und die Leben der beiden Protagonistinnen geschickt, welche sich durch Zufall ab und zu sogar berühren. Die Gestaltung der Berührungspunkte hat mir sehr gut gefallen, für die beiden Frauen bleibt nicht viel mehr als eine blasse Erinnerung und doch bedeutet es so viel mehr. Faszinierend ausgearbeitet ist im ersten Drittel die Darstellung der Perspektiven. Die eine Protagonistin hat welche, die andere nicht. Der einen stehen alle Wege offen, jedoch kann sie sich nicht ihrer, teils selbstauferlegten, Verpflichtung entziehen, die andere scheint keine Möglichkeiten zu haben, entkommt jedoch der bittersten Armut und kann sich zunächst frei entfalten. Die Erzählungen rund um Marie fand ich durchgehend spannend. Sie ist eine Mischung aus bewundernswert optimistisch und feministisch andererseits auch etwas naiv und riskant. Trotz allem hätte ich zu gerne in ihrer Buchhandlung gestöbert und mit ihr über die verrücktesten Geschichten, die doch meist das Leben schreibt, zu sprechen. Für mich sind extreme Ideologien, egal welcher Art, immer etwas ermüdend, weswegen ich im Mittelteil die Erzählung um Tina etwas langatmig fand. Im Klappentext wird auch angemerkt, dass sie über den Umweg Hollywood zur Fotografie fand. Allerdings findet dieser Umweg nur den Weg in einen sehr kurzen Teil der Geschichte. Gegen Ende fand ich es interessant zu beobachten, wie einige festgefahrene Ideologien reflektiert wurden. Die Zeiten haben sich stark geändert, die Frage ist nun mitgehen oder stehen bleiben? Insgesamt ist es ein interessantes Porträt der echten Tina Modotti, die ich so noch nicht kannte. Einige bekannte Verlage, deren Schwierigkeiten während der NS Zeit mir nicht bekannt waren, finden auch öfters Erwähnung. Wie schön, einige der Namen zu kennen die durchgehalten haben und heute noch existieren. Neu war mir auch die Vergangenheit vom Versandhandel „Quelle“, was ich gleich noch intensiver recherchiert habe. Wie interessant darüber jetzt Bescheid zu wissen. „Sie haben mich nicht gekriegt“ ist ein toller Roman, welcher zwei Frauen auf ihrem nicht einfachen Lebensweg begleitet. Wer sich für die Schwierigkeiten während der NS Zeit und für den Kommunismus im 20. Jahrhundert in Romanform interessiert, ist hier richtig.

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