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mrstrikehardt

Posted on 11.3.2021

Für die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Amanda Anderson steht die namenlose Protagonistin in "Milkman" beispielhaft für "rumination". Die deutsche Übersetzung dafür lautet Grübeln, Nachsinnen, Wiederkäuen. Im psychologischen Sinne wird rumination eher negativ gedeutet, weil sich das ständige Nachdenken in einer Endlosschleife verfängt und die Angelegenheit (häufig ein Trauma) nicht abgeschlossen, nicht hinter sich gelassen wird. Nach Amanda Anderson besitzt rumination jedoch auch ein befreiendes Potential. Das Nachsinnen kann sowohl den Blickwinkel verkürzen wie weiten. Beides zeigt sich in "Milkman". Die Protagonistin verfängt sich in den Gerüchten und Anschuldigungen, die gegen sie vorgebracht werden, obwohl sie sich aus allem heraushalten will. Doch leider sind die Verhältnisse nicht so. Die "Troubles" in Nordirland sind auch die ihre. Anna Burns seziert minutiös das Innenleben der Protagonistin und durch sie hindurch die gesellschaftlichen Verhältnisse. Unter die Lupe werden genommen: Politik, Religion, Gleichberechtigung der Geschlechter (bzw. dessen fehlen), Beziehungen (aus Liebe und aus Kalkül), Freundschaften. Große Themen, doch Anna Burns beherrscht es, sie im Konkreten, im Detail zu beschreiben. Ihre Beschreibungskunst der Gedankenschleifen äußert sich in Hypotaxen, im großzügigen Gebrauch von Adjektiven und natürlich Wiederholungen. Das macht Milkman zu einer herausfordernden Lektüre. Aus lauter Hybris habe ich es im Original gelesen, wodurch sich mir manche Nuancen nicht erschlossen haben (trotz Wörterbuch). Bei einer zweiten Lektüre würde ich zur Übersetzung greifen.

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