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sabinescholl

Posted on 8.3.2021

In „Junischnee“ konzentriert sich die Wiener Autorin Ljuba Arnautovic vor allem auf die Rekonstruktion ihrer bewegten Familiengeschichte. Sie liefert Eckdaten zum Aufwachsen ihres Vaters Karl in sowjetischen Heimen, wohin seine Mutter ihn zum Schutz vor den Nazis verschickt hatte. Als Jugendlicher flieht er, lebt auf der Straße, wird verhaftet und kommt in einen sibirischen GUlag. Die Autorin zeichnet nach, wie sich diese Vorbedingungen auf seine späteren Beziehungen übertragen, maßt sich aber kein Urteil darüber an, sondern agiert im Sinne einer Chronistin, die Neutralität wahren muss. Äußere Umstände werden geschildert, das Innenleben der Protagonisten bleibt weitgehend ausgespart. Begleitend zur chronologisch gehaltenen Nacherzählung der historischen Ereignisse erhält das Originalmaterial aus Archiven, welches unkommentiert in den Erzählablauf von „Junischnee“ eingebracht wird, angemessenen Raum. Der Leser kann daraus erkennen, dass Karl anscheinend gezwungen wurde, konterrevolutionäre Straftaten zu gestehen, die er vielleicht nie begangen hatte. Dazu kommen Notizen aus dem Nachlass des Protagonisten, wie z.B. seine 10 Gebote des Überlebens im GUlag, gefolgt vom Entlassungsschein, der ihm dann endlich ein Leben außerhalb des Disziplinierungssystems ermöglichte. Diese Konzentration auf äußere Vorgänge lässt die Protagonisten tatsächlich oft wie Marionetten eines höheren, jedoch nicht ausdrücklich benannten Systems erscheinen. Karl wird erst lebendig, wenn wir ihn als Erwachsenen mit seiner eigenen Stimme, in der noch die des Kindes steckt, hören. Sie ist Briefen zu entnehmen, die er nach fast zwanzigjähriger Kontaktpause an die Mutter in Wien schreibt. Das Kind ist im fehlerhaften Deutsch zu erahnen, das er während seiner Umerziehung zum Sowjetbürger fast verlernt hat. In Rechtschreibfehlern und der kindlichen Anrede zeigen sich Reste von Gefühlen: „Mutti, ich weiß nicht warum, aber wenn ich Dir einen Brief schreibe kommt es mir vor als wenn ich noch immer der kleine Karli wär und Du die liebe, kluge, strenge Mutti. Beim Brief schreiben vergesse ich ganz, daß ich schon dreißig Jahre alt bin und werde wieder klein und jung.“ Die Erzählerin hingegen erlaubt sich keine Spekulationen, keine Fantasien, keine Metaphern. Arnautovics Streben nach Neutralität spiegelt sich in ihrem Sprachgebrauch. So werden alle Protagonisten bloß in kurzen Lebensläufen vorgestellt, ihr Aussehen, ihre Körperlichkeit angedeutet, ihre Herkunft, Ausbildung, ihre Lage vor und nach der Revolution. Darauf folgen kurze erklärende Einschübe zur Historie, wie: „1922 war das Land zu einem neuen Staat geworden und heißt jetzt Sowjetunion.“ Der Leser kann sich darauf verlassen, dass die Fakten stimmen, wie in einem Protokoll, das der Beweissicherung dient. Sogar die Satzmuster sind schlicht. Meist werden Subjekt, Verb, Objekt aneinandergereiht. Die Verbindung von Eigennamen mit Adverben des Gefühls stellt das Äußerste an Emotionalität vor, z.B. “Eva ist aufgewühlt.” “Karli ist hocherfreut.” Als dramaturgisches Mittel setzt Arnautovic meist die Vorausdeutung, wodurch zuweilen die Entwicklung des Protagonisten Karl und eine Phase deutlich wird, in der sie diesen Mann als Vater erlebte. Es bleiben jedoch Lücken und viele Fragen. Dass die Folgen der emotionalen Verwahrlosung Karls enorm waren, dass sein rücksichtsloses Verhalten das Leben seiner Ehefrauen und Kinder, also auch das der Autorin, stark beeinträchtigte, wird nur als Nachklang spürbar. „Junischnee“ funktioniert so eher als Chronik, denn als Roman.

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