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katkaesk

Posted on 8.3.2021

„Ich atme durch, stehe auf und gehe zum Fenster, öffne einen Flügel, strecke den Kopf hinaus ins Freie. Mein Blick wandert Richtung Himmel, ein Flugzeug, ein zweites, ich drehe den Kopf, wieder Flugzeuge. Der Himmel ist voll von ihnen. Eins, zwei, drei, weiterzählen macht keine Laune, ich frage mich, wie es wäre, wenn sie alle für einen Tag am Boden blieben.“ Diese Frage stellen sich Lesende nicht nur in Bezug auf Flugzeuge, sondern eben- falls bei den Protagonist*innen, die nach und nach im Hotel Weitblick erscheinen: Vier Führungskräfte einer Werbeagentur namens Annette Stumpner, Franz Seidlin- ger, Helmut Kriegler und Horst Wienacher. Sie bestreiten ein Wochenende lang ein Assessmentseminar bei Dr. Marius Tankwart mit dem Ziel, noch ein Stück weiter die Karriereleiter zu besteigen. Von Selbstzweifeln geplagt, treibt der Consulter Tankwart die vier Teilnehmer*innen langsam in den Wahnsinn mit seinen berühmten Metho- den. Ein Kampf zwischen den künftigen Leadern bricht aus und eine friedliche Lösung kommt dementsprechend nicht mehr in Frage. Marius Tankwart muss Ent- scheidungen treffen, von denen sein Überleben abhängt, da sich der Druck der Teil- nehmenden nicht nur von außen mit Beziehungen und Statussymbolen nieder- schlägt, sondern vor allem von innen kommt. Im Verhalten der vier Angestellten der Werbeagentur wird schnell deutlich, wie sehr sie die Erziehungsmethoden der „Nazi- Pädagogin“ Johanna Haarer verinnerlicht haben. Man wird in eine unbekannte Welt gezogen, sieht den Endvierzigern bis Mittfünfzi- gern beim Scheitern zu. Die Sichtweise von Annette wird viel häufiger eingenommen und trotzdem wird sie von jenen nicht als potentielle Führungskraft oder Gefahr wahr- genommen. Ein schmerzender und altbekannter Blick, den man in Gestalt einer Leser*in lieber zu vermeiden gewusst hätte, im Besonderen, wenn man dieser Generation nicht angehört. Technisch besticht der Roman aber durch eine beacht- liche Klarheit, obwohl der Text zwischen fünf Ich-Perspektiven und Erzählperspek- tiven wechselt. Zusätzlich fungiert ein kleiner, schwarzer Hirsch als optische Zäsur. Hotel Weitblick liest sich als Tragödie sogenannter Leistungsträger*innen der Gesell- schaft. Es wird schnell klar, warum die gelernte Pädagogin Silberer dieses Buch geschrieben hat: Es ist ein Hinterfragen der selbsterfahrenen Erziehung und der damit verbundenen Werte. Beim Lesen stellen sich die Fragen: Will man so sein? Ein*e Leistungsträger*in, der/die auf völlige Transparenz pocht und über Leichen geht? Braucht man Vertrauen oder ist Kontrolle weitaus effizienter? Fremdscham und das Gefühl peinlich berührt zu sein, ist in diesem Buch allgegenwärtig. Schnell kommt man bei dem unpädagogisch erzählten Roman zu dem Schluss: Selbstopti- mierung und Erfolg in Kombination ist gefährlich. Eine schmerzhafte Erkenntnis in einer leistungsorientierten Gesellschaft.

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