Profilbild von gwyn

gwyn

Posted on 27.2.2021

«Ein blaues Auge schaute ihn an. Kein kompletter Augapfel, eher eine Halbschale, gleichwohl perfekt gerundet. Rath musste unwillkürlich an das blutige Auge denken, das im Mülleimer des Sturmlokals gelegen hatte, und ihm wurde flau im Magen. Doch dieses Auge hier war anders. Hart und unerbittlich. `Daran ist er gestorben?´ Karthaus nickte. `Wie zum Teufel, Doktor, bekommt jemand ein Glasauge in seine Luftröhre?´ `Eine interessante Frage, Kommissar´, sagte der Gerichtsmediziner, `die zu beantworten dann wohl ihre Aufgabe sein dürft.» Berlin 1934: Unter der Eisenbahnbrücke an der Liesenstraße wird ein toter SA-Mann gefunden, über dem an der Hauswand eine kommunistische Parole prangt. Kommissar Gereon Rath ermittelt für die Mordkommission, aber auch sein früheren Kollege Reinhold Gräf, der inzwischen für die Geheime Staatspolizei arbeitet, untersucht den Fall. Wer ist zuständig? Im Zweifelsfall hat die Gestapo das Sagen. In letzter Zeit hatte es mehrere Überfälle auf SA-Leute gegeben. Für Gräf ist die Sache sonnenklar: Hier waren Kommunisten am Werk. Rath entdeckt Verbindungen zu einem zerschlagenen Ringverein, der seine kriminellen Aktivitäten nun als SA-Gruppe fortsetzt. Und ziemlich bald ist Rath klar, dass hier ein Einzeltäter am Werk ist, der auf einem Rachefeldzug unterwegs ist. Doch er hat seine eigenen Gründe, das für sich zu behalten. Er muss den Mann stellen. Mit der Gestapo hat er sowieso nichts am Hut. Volker Kutschner zieht wieder alle Register. Rath schlängelt sich hindurch, schon mit seiner eigenen Interprätion des Hitlergrußes, und er erlebt, mit welcher Brutalität SA und SS Menschen verhaften, verprügeln, foltern, in Haft halten. Ohne rechtlichen Beschluss – dabei aber mit viel Spaß. Sie machen schlicht, was sie wollen. Selbst Raths Frau Charly gerät in SA-Haft, als bei der Eröffnungsparty einer neuen Anwaltskanzelei sämtliche Gäste und Angestellte verhaftet werden. In diesem Krimi haben Rath und Charly hin und wieder mal Krach, denn jeder hat Geheimnisse vor dem anderen. In dieser Zeit weiß man einfach nicht mehr, wem man trauen kann – vielleicht nicht einmal dem Ehepartner. Auch vor Adoptivkind Fritze müssen sie den Mund halten. Frize, nun ein Jugendlicher, möchte der HJ beitreten, alle seine Freunde sind dort. Charly ist dagegen – doch Gerion meint, ein wenig Sport und Lagerfeuer können nicht schaden, macht er nicht mit, ist er ein verdächtiger Außenseiter. Doch Sprüche und Meinungen, die der Junge mit nach Hause mitbringt, lassen die Zieheltern bald aufhorchen. Gräf nutzt die neuen Machthaber für seine Karriere, jetzt kann er seinem alten Chef Rath sagen, wo es lang geht. Er ist sich sicher, bald weiter befördert zu werden. Sein schwuler Freund ist bei der SS, eine Sache, die natürlich niemand wissen darf – Schwulen geht es nicht besser, als den Kommunisten. Der Gangster Dr. Marlow spielt auch wieder sein Spiel mit Rath – hier hat Rath noch eine Schuld abzutragen. Man zerrt von allen Ecken an Kommissar Rath. Historischer Hintergrund ist in diesem Band der Röhm-Putsch, genannt die «Nacht der langen Messer», bei der Ernst Röhm und andere Funktionäre der SA-Führung festgenommen und – zum Teil noch in derselben Nacht – durch Angehörige der SS ermordet wurden. Heute geht man von bis zu 200 Exekutionen aus, dabei auch der vorige Reichskanzler Kurt von Schleicher. Der zunehmende Antisemitismus, die Angst der Bevölkerung vor SA, SS und Gestapo, die mit brutaler Gewalt herrschen, die Indoktrinierung der Jugend und natürlich die Ja-Sager, die auf den Zug aufspringen, um sich einen Vorteil zu schaffen, zeigt Kutscher in diesem Roman mit allen Facetten, mit allen Widersprüchen. Charly, die Resolute, die vor den Nazis warnt und Gerion, dem dieses Regime nicht passt, den es immer mehr anwidert, der aber glaubt, bald sei alles vorbei und dazwischen Fritze, der in seiner Jugend naiv alle Sprüche aufsaugt – ein Dreiergespann, das immer wieder auseinanderdriftet, weil jeder seinen Weg allein geht. Im Mikrokosmos der Familie zeigt sich bereits, wie sehr die nationalsozialistische Idee die Menschen vergiftet, auseinandertreibt. Die Schrecken der rechtlosen Diktatur zeigt ihr wahres Gesicht. Atmosphärisch beschreibt Volker Kutscher das historische Berlin mit viel Gefühl für die Zeit – auch mit aller seiner Brutalität, die sie mit sich brachte. Intensiver kann dieser historische Krimi die Zeit gar nicht fassen. Für mich ist dies einer der besten deutschen Krimireihen. Volker Kutscher, geboren 1962, arbeitete nach dem Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte zunächst als Tageszeitungsredakteur, bevor er seinen ersten Kriminalroman schrieb. Heute lebt er als freier Autor in Köln. Mit dem Roman «Der nasse Fisch», dem Auftakt seiner Krimiserie um Kommissar Rath im Berlin der Dreißigerjahre, gelang ihm auf Anhieb ein Bestseller, dem bisher fünf weitere folgten. Die Reihe ist inzwischen in viele Sprachen übersetzt.

zurück nach oben