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gwyn

Posted on 27.2.2021

Der Anfang: «Eine der ersten Kugeln kommt durch das offene Fenster über der Toilette, vor der Luca steht. Er begreift zuerst überhaupt nicht, dass es eine Kugel ist, und es ist reines Glück, dass sie ihn nicht zwischen den Augen trifft.» Sie feiern die Geburtstagsfeier von Lydias Nichte, die gesamte Familie ist in Acapulco zusammengekommen, sie sitzen im Garten zusammen und grillen. Lediglich Lydia und ihr Sohn Luca befinden sich im Haus, als draußen die Schüsse hallen, sie verstecken sich in der hinteren Ecke der Dusche und werden nicht gefunden. 16 tote Verwandte: Lydias Mann, ein Journalist, dem wahrscheinlich der Anschlag galt, ihre Mutter, Schwester, Nichte usw. – Lydia und der achtjährige Luca haben überlebt. Wielange, ist nur eine Frage der Zeit, da ist sich Lydia sicher. Sobald der Chef des Drogenkartells «Los Jardineros» herausbekommt, dass sie überlebt haben, wird er sie jagen, ihre Fotos werden in Sekunden über das Land verteilt werden, seine Spitzel sitzen überall: Hotelangestellte, Busfahrer, Polizisten, Ladenbesitzer, die Dichte seiner bezahlten Informanten ist nicht zu zählen. Lydia kennt ihn. Er ist ein guter Kunde in ihrem Buchladen, einer, mit dem sie über Literatur spricht, mit dem sie gleiche Leseinteressen pflegt – sie wusste nicht gleich, wer er war, erst viel später ist ihr das klar geworden. Sie können hier nicht bleiben, entscheidet Lydia, sucht im Haus ihrer Mutter ein paar Sachen zusammen und macht sich mit Luca auf den Weg. Fort von hier! Nicht nach Hause gehen, nicht das Auto benutzen. Sie suchen sich ein unauffälliges, abgelegenes Hotel, checken unter falschen Namen ein, werden aber schnell aufgestöbert und können noch einmal fliehen. «Lydia hat schon oft frei sprechende Witwen gesehen, Witwen, die durch ihre Trauer mutig wurden. Sie hat zugesehen, wie sie in Kameras sprachen, nicht mehr schweigen wollten, diejenigen beschuldigten, die schuldig waren, voller Verachtung, die Gewalt feiger Männer anprangerten. Die Namen nannten. Diese Frauen werden auf Beerdigungen niedergeschossen. Nicht denken, nicht denken, nicht denken.» Wir fliegen nach Mexiko City, dann in die USA, denkt Lydia. Ohne Ausweise kein Flug, die Gefahr, erkannt zu werden, ist groß, nicht mal ein Inlandsflug ist ohne Papiere zu haben. Der Fußweg in die USA ist mörderisch und gefährlich, das Kartell überwacht auch hier alles und jeden. Lydia entschließt sich deshalb zu einem schweren Schritt, macht sich mit Luca auf den Weg in die USA mit der Route «La Bestia» – auf den Dächern von Zügen reisen, die sie nach «el norte» bringen. El norte, die Grenze, das Zauberwort für alle, die auf der Flucht sind. Das Aufsteigen auf den Zug kosten jeden Tag Opfer, schnell kommt man under die Räder, andere fallen vom Dach herunter, passen nicht auf, werden von Ästen erwischt, am Abend ist das Leben in den Lagern nicht ungefährlicher. Wem kann man trauen? Frauen leben besonders gefährlich. Ein epischer Triller und gleichzeitig ein Pageturner. Geht das? Ja, es funktioniert wunderbar. Es liegt an der bildhaften Sprache, die eindringlich die Außen- und Innenwelt beschreibt. Ein Roadmovie, bei dem Schlag um Schlag Neues hinzukommt. Lydia hatte sich nie mit Flüchtlingen und Flüchtlingsrouten befasst; eine Familie der bürgerlichen Mitte, natürlich weiß sie um die Problematik, doch im Detail kennt sie sich nicht aus. So wägt sie ab, wem man vertrauen kann, fragt sich durch, schließt sich Leuten an, kurz, oder über längere Strecken. Sie lernt verschiedenste Menschen und Schicksale kennen, nicht alle Flüchtlinge sind Mexikaner. Jeder trägt sein Schicksal und ist zu allem bereit. So konstruiert Jeanine Cummins ein feines Netz von vielschichtigen Charakteren. Sie gibt den Flüchtlingen ein Gesicht. Gleichzeitig hält sie die Spannung hoch, denn jeder einzelne Tag ist gefährlich. Der Leser erlebt die Schwierigkeiten, die auf einer Flucht zu meistern sind, gleichzeitig die Solidarität, die unter den Menschen herrscht, die Brutalität der Gefahren durch geldgierige Milizen und Kartelle. «Vaya con Dios!›, schreit der Junge den Männern zu, die er hinter sich lässt. ‹Ya me voy pa ´lotro la´o!› Wieder ein Jubeln. ‹Gib auf dich acht und Gott segne dich!›, schreit der Mann.» Ein paar Zeilen weiter: «Qué onda, güey?›, sagt der Junge mit seinem Grenzakzent, der ihn sofort als Bewohner eines nördlichen Bundesstaates entlavt.» Grundsätzlich besitzt der Thriller viel Authentizität, so weit wir das aus der Außensicht beurteilen können, und die Geschichte geht unter die Haut. Lydia hat allerdings mehr oder weniger Dauerglück, kommt mit ihrem Sohn fast unbeschädigt davon, die schlimmen Dinge passieren den anderen und immer wieder findet sie jemanden, der ihr mit großem Einsatz weiterhilft – ein wenig zu viel Glück. Nimmt man das heraus, so ist hier eine glaubwürdige Geschichte entstanden, die ein brisantes Thema aufnimmt. Ich habe kein Problem mit den spanischen Vokabeln – aber es hätte mich genervt, wenn ich sie nicht verstehen würde. Es ist ein klarer Logikfehler! Alle diese Menschen sprechen Spanisch miteinander, geschrieben auf Englisch, übersetzt auf Deutsch. Nur was haben die ständigen spanischen Sätze hier zu suchen? Oft werden sie übersetzt durch die Antwort. Manchmal steht die Übersetzung als Folgesatz dort, was völliger Blödsinn ist. Oder es wird gar nicht übersetzt. Klar, was die Autorin erzeugen wollte: Authentizität durch Sprache, den Leser das spanische Gefühl geben. Da geht mir jedes Mal der Hut hoch! Das ist nicht authentisch, sondern unlogisch. Das hat dieses Buch auch gar nicht nötig. «Im schlimmsten Fall nehmen wir sie als Mob wahr, als Invasion von Kriminellen, die unsere Mittel aufsaugen wollen, und im besten Fall als eine Art hilflose, verarmte, gesichtslose braune Masse, die auf unserer Türschwelle um Hilfe schreit. Wir sehen sie selten als Mitmenschen.» (aus dem Nachwort) Der Roman wurde in den USA mit großer Werbetrommel auf den Weg gebracht und mit Bravour vom Feuilleton besprochen und von bekannten Schriftsteller*innen wie Anne Pratchett, Sandra Cisneros, John Grisham, Don Winslow und Stephen King hoch gelobt. Aber gleich nach Erscheinen traf Verlag und Autorin eine Kritik mit voller Wucht: Sie wurde als weiße Frau der «kulturellen Aneignung» beschuldigt. Weiße Autoren sollen sich nicht Themen von ethnischen Minderheiten aneignen, so die Kritik. In dieselbe Richtung geht es auch, dass Heteros nicht über Schwule schreiben dürfen usw. Die Amerikanerin Jeanine Cummins ist in Spanien geboren, zu ein Viertel Puerto-Ricanerin, verheiratet mit einem illegalen Einwanderer. Nicht farbig genug? Nicht selbst betroffen? Die Aufregung ging sogar so weit, dass der Verlag Lesungen absagte, weil mit Tumulten zu rechnen war. Oprah Winfrey entschuldigte sich für ihre gute Bewertung. Anne Pratchett glücklicherweise nicht. Die Autorin sagt, sie wollte die Flüchtlinge empathisch darstellen, ihnen ein Gesicht geben. Das ist ihr gelungen. Darf sie das nicht, weil sie das alles nicht selbst erlebt hat? Ein Schriftsteller von guten Romanen begibt sich meist mit Recherche und seinen Gedanken in eine abstrakte Welt, in Strukturen, soziale Umfelder, die nicht immer seine sind. Wie schwarz, weiß, religiös muss einer sein, um sich eines Themas annehmen zu können? Nicht umsonst heißt es im Englischen fiction und non fiction. Nur das schreiben dürfen, was wir selbst erleben? Muss ein Krimischreiber in Konsequenz ein Mörder, ein Pädophiler, Psychopath usw. sein, um sich in eine Figur hineindenken zu können? Damit würden wir auch jeglich Art von Zukunftsromanen und historischen Romanen verbieten. Wo soll es anfangen und aufhören, worüber Autoren schreiben dürfen? Wir dürfen dieser Moralpolizei nicht unterliegen und müssen aufpassen, wohin uns solche Diskussionen führen!

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