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Bris Buchstoff

Posted on 26.2.2021

Wie das Leben ist Wie geht man als Kind mit Verlust um? Oder ist die Frage eher, wie geht der Mensch, egal auf welcher seiner Lebensstufen er sich befindet, mit dem ersten, einschneidenden Verlust um? Gibt es zu unterschiedlichen Lebenszeiten verschiedene Möglichkeiten, sich der Trauer zu stellen oder ist es vielmehr eine Frage der Persönlichkeit, wie damit umgegangen wird und das weitere Leben gelebt. Jules Moreau ist elf Jahre alt, als ein Autounfall ihn und seine beiden älteren Geschwister Marty und Liz zu Vollwaisen macht. Alle drei kommen auf dasselbe Internat, doch Jules ist noch zu jung, um im selben Bereich wie sein Bruder und seine Schwester untergebracht zu werden. Der Jüngste und bisher mutigste der drei fühlt sich verlassen und einsam und glaubt fest daran, dass er von nun ab ein falsches Leben führt … Benedict Wells beginnt die Geschichte um Jules, der sie uns selbst erzählt, retrospektiv und fulminant. Fast atemlos jagt man dem mutigen Jungen durch seine zunächst wilde Kindheit hinterher, erlebt die Zeit vor dem großen Einschnitt hautnah mit, fällt gleichzeitig mit ihm in eine Art Duldungsstarre und spürt trotz aller Schwierigkeiten so etwas, wie ein sich Einnisten in der Lektüre. Wells gilt seit seinem 2008 erschienen und sehr erfolgreichen Debüt als literarisches Wunderkind. Weshalb er so eingeschätzt wird, lässt sich gerade am Anfang seines neuesten Romans „Vom Ende der Einsamkeit“ verdeutlichen: Seine Sprache, sein Ausdruck, sein Stil machen es dem Leser extrem leicht, in der Geschichte anzukommen. Der erste Gedanke nach ein paar Seiten Lektüre: Das ist ja wie nach Hause kommen. Aber weder die Protagonisten, noch deren Darstellung bewirken diese angenehme Vertrautheit, sondern die Stimme dahinter, die trotz ihrer Jugend – ja, mit Anfang 30 ist man durchaus jung zu nennen – eine hohe Erlebensdichte aufzuweisen scheint und die es fast zwingend erscheinen lässt, ganz nah heranzutreten, an den Erzählenden. Getreu des dem Roman als Vorwort vorangestellten Zitats F. Scott Fitzgeralds: Rück mit dem Stuhl heran Bis an den Rand des Abgrunds Dann erzähl ich Dir meine Geschichte. Und das ist doch, was Lesende mehr als alles andere schätzen: Geschichten erzählt zu bekommen. Wells weiß um die Magie guter Geschichten und nutzt dieses Wissen zu Anfang seines Romanes klug. Am fesselnden Auftakt seines Romans kommt man nicht vorbei. Der Bruch, der dem Auftakt später folgt ist zunächst etwas ärgerlich – war an dieser Stelle die Luft raus, zu viel gewollt, zu wenig umgesetzt? Im Nachhinein betrachtet, ist der Bruch aber durchaus konsequent zu nennen. Das Erzähltempo wird verringert, die verstreichende Zeit dehnt sich, wird zäh, alles deutet auf einen Stillstand hin. Weshalb nach diesem rasanten Einstieg und Voranschreiten plötzlich dieser Bruch? Jules ist fast dort angekommen, wo er immer hin wollte und … verharrt. War er vorher zwar rastlos und doch irgendwie auf der Suche, so scheint es nur noch einen Weg für ihn zu geben – ob er ihn beschreiten kann, ist aber ungewiss. Natürlich hat das alles mit der ihm schon in jungen Jahren nahestehenden, ja besten, Freundin zu tun, die er hat: Alva. Sie ist wieder aufgetaucht und braucht ihn. Er ist da. Im Nachhinein ist diese Dehnung des Textes also eigentlich eine Spiegelung dessen, was mit Jules zu diesem Zeitpunkt passiert. Es ist ein Schwebezustand. Seit dem Unfalltod seiner Eltern fühlt sich sein Leben falsch an – und auch trotz der Wendungen, die ihn seinem Ziel, der Einsamkeit zu entkommen, sehr viel näher bringen, bleibt er in der Duldungsstarre. Als fühlte er sich ständig bedroht von Verlustängsten, die sich letztendlich leider bestätigen. Wenn jemand lernen muss loszulassen, dann ist das Jules Moreau. Es gibt Textstellen, die geradezu nach der Frage schreien, weshalb Leser so gequält werden müssen. Natürlich ist es nicht Benedict Wells, der seine Leser quält, sondern es sind unsere Erfahrungen mit dem Leben, die Erinnerungen an Schmerz, Verlust und Trauer, die durch das, was er Jules widerfahren lässt, an die Oberfläche kommen. Über den Rand des Abgrunds. Das mag kein wissenschaftlich – literarisches Qualitätsmerkmal sein, aber erreichen, das tut es den Leser. Und das Gefühl des im Text zuhause zu sein stellt sich zum Ende des Romans ebenso plötzlich wieder ein, wie es am Anfang schlagartig aufgetaucht war. Endlich gönnt Wells seiner Hauptfigur loszulassen. Auch wenn es schmerzhaft ist. Die Erkenntnis, dass viele andere Spielarten eines, seines Lebens denkbar sind, es aber zu jeder Zeit immer nur ein tatsächliches gibt gepaart mit der Stärke der Worte, in die Wells diese Erkenntnis kleidet, zeugt von Talent. Auf jeden Fall verrät es Tiefe. “ … erst spät habe ich verstanden, dass in Wahrheit nur ich selbst der Architekt meiner Existenz bin. Ich bin es, wenn ich zulasse, dass meine Vergangenheit mich beeinflusst, und ich bin es umgekehrt genauso, wenn ich mir ihr widersetze. Dieses andere Leben, in dem ich nun schon so deutliche Spuren hinterlassen habe, kann gar nicht mehr falsch sein. Denn es ist meins. … „ Mit herzlichem Dank für den Sitzplatz am Abgrund.

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