Profilbild von Wordworld

Wordworld

Posted on 20.2.2021

Jennifer Niven werden die meisten von Euch vielleicht schon von ihrem bekannten Weltbestseller "All die verdammt perfekten Tage" (Original: "All The Bright Places") kennen, welcher im letzten Jahr auch verfilmt wurde. Für mich war "Stell dir vor, dass ich dich liebe" jedoch meine erste (und definitiv nicht letzte) Begegnung mit der amerikanischen Spiegelbestseller-Autorin, welche mich vollkommen überrascht hat. Denn dieser wundervolle Roman über Stärke, Außenseiter, Besonderssein, Mut und Liebe ist einfach wunderschön. Ich habe mich beim Lesen so in Jack und Libbys Geschichte verliebt, die mir ein überraschendes, unerwartetes, aber umwerfendes Jahreshighlight geschenkt hat. "Du bist der wunderbarste Mensch, den ich je getroffen habe. Du bist anders. Du bist du. Immer. Wer kann das noch von sich behaupten?" Das Cover ist passend zu Jennifer Nivens Vorgänger "All die verdammt perfekten Tage" gestaltet und grundsätzlich nett anzusehen. Mich überzeugen aber weder der grellpinke Hintergrund noch das Hauptmotiv mit dem weißen Stern und der Skizze der zwei Personen in einem Park. Auch von der Übersetzung des Originaltitels "Holding Up The Universe" bin ich nicht gerade begeistert, da mir bei "Stell dir vor, dass ich dich liebe" der direkte Handlungsbezug fehlt. Klar, man kann die Überraschung darüber, dass gerade diese zwei Personen zusammenfinden zwischen den Seiten spüren, aber diesen Titel könnte ich mir auch bei ungefähr dreißig anderen Geschichten vorstellen. Ich hätte mir für diese außergewöhnliche Story also etwas mit mehr Wiedererkennungswert gewünscht! Erster Satz: "Ich bin kein mieser Typ, aber ich bin kurz davor, etwas Mieses zu tun." Wir starten mit einem kurzen Brief von Jack in die Geschichte, in dem er sich für eine Handlung entschuldigt, zu der er sich gezwungen gefühlt hat. Um was es sich hierbei handelt, warum er es für eine bessere Idee gehalten hat, lieber Täter als Opfer zu sein und was es für ein Leben bedeutet, gesichtsblind zu sein, erfahren wir innerhalb der nächsten Kapitel, die einen Zeitsprung auf achtzehn Stunden zuvor wagen. Hier lernen wir nun zunächst die 16jährige Libby kennen, die nach sechs Jahren Auszeit ihren ersten Tag als Elftklässlerin an der Highschool hat. Dass dies kein Zuckerschlecken wird, liegt nicht nur daran, dass sie keinen einzigen Freund hat, sondern auch, dass Teenager grausam sein können, vor allem zu "Amerikas fettestem Teenager", welcher mit Hilfe eines Krans aus seinem eigenen Haus befreit werden musste. Was sie jedoch nicht erwartet hatte, ist, dass sie gleich an ihrem ersten Tag nach einem Vorfall in der Cafeteria im Büro der Direktorin landet und eine Gesprächsgruppe aufgebrummt bekommt und noch viel weniger, dass sie im Laufe der nächsten Woche beginnt, Gefühle für den Jungen zu entwickeln, der an all dem Schuld ist: Jack... "Die Schule ist genauso, wie ich es erwartet habe, und gleichzeitig noch mehr. Erstens hat die Martin-Van-Buren-Highschool etwa zweitausend Schüler, deshalb wimmelt es nur so von Menschen. Zweitens sieht niemand so glänzend und poliert aus wie in den Filmversionen einer Highschool. Echte Teenager sind nicht 25. Wir haben schlechte Haut und schlechte Haare und gute Haut und gute Haare, und es gibt uns in allen möglichen Größen und Formen. Ich mag uns lieber als unsere Film-Ichs, obwohl ich mich, wie ich hier sitze, selbst wie eine Schauspielerin fühle, die eine Rolle spielt. Ich bin der Fisch auf dem Trockenen, die Neue. Was wird meine Geschichte sein?" Jennifer Niven bricht mit dem ersten Zusammentreffen ihrer beiden Protagonisten wohl jede Regel, die für den Beginn einer epischen Liebesgeschichte jemals aufgestellt worden ist. Zu Beginn kann man es sich im Leben nicht vorstellen, dass Jack und Libby zusammenfinden könnten - zu unterschiedlich sind ihre Leben und ihre Stellung auf der Highschool-Hackliste -, mit jeder verstreichenden Seite wird jedoch deutlicher, dass sich die beiden gar nicht so sehr voneinander unterscheiden. Denn während Libby damit kämpft, übergewichtig zu sein und auf den Vorfall vor drei Jahren reduziert zu werden, hat auch Jack etwas zu verbergen, dass ihn zu einem leichten Opfer machen könnte: er leidet unter einer neurologischen Störung mit dem Namen Prosopagnosie, bei welcher die Gesichtserkennung infolge einer Gehirnverletzung oder eines genetischen Defekts gestört ist. Im Klartext bedeutet das für ihn: "Ich betrete einen Raum und kenne niemanden. Und so ist es mit jedem Raum, überall." Was erst einmal verrückt klingt, ist ein Problem, das etwa 2,5 Prozent der Weltbevölkerung betrifft und in verschiedenen Schweregraden auftreten kann. Wie schwer es für Jack ist, seine Freunde und seine Familie anhand von äußerlichen Erkennungsmerkmalen mühsam rekonstruieren zu müssen und in welche peinlichen Situationen ihn diese Störung schon gebracht hat, transportiert die Autorin auf sehr einfühlsame, aber eindrückliche Art und Weise. "Ich sehe es so: Ich habe meine Mom verloren, mich beinahe zu Tode gefressen, wurde aus meinem Haus gesägt, während das ganze Land zusah, habe Diäten und Ernährungspläne und die Enttäuschung der Nation ausgehalten und Hassmails von Wildfremden bekommen. (...) Also was kann die Highschool mir antun, was mir nicht bereits angetan wurde?" Mit ebenso viel Fingerspitzengefühl geht sie das Thema Mobbing an, mit dem sich Libby schon sehr früh konfrontiert sah. Egal ob fiese Briefe, Ablehnung, Starren oder Getuschel - ihr wird es nicht gerade leicht gemacht, obwohl sie im Grunde niemandem etwas getan hat. Doch statt klein bei zu geben und sich wieder in die Sicherheit ihres Zimmers zurückzuziehen, sagt sie der Welt den Kampf an. Das machte sie in meinen Augen riesengroß - nicht nur, weil ihr Körperumfang den der meisten ihrer Mitschüler um einiges übersteigt, sondern weil sie für sich selbst einsteht, an ihren eigenen Wert glaubt und sich nichts entgehen lässt. Sie will tanzen? Also tanzt sie wie wild. Sie will nicht von anderen beleidigt werden? Also bedenkt sie sich schon selbst mit den miesesten Gemeinheiten, die ihr einfallen. Sie will gesehen werden? Also setzt sie in einem lila Bikini ein Zeichen... Auch sie hat natürlich Fehler und ist weit davon entfernt, eine typische Heldin zu sein, aber bei ihrem lauten und selbstbewussten Auftreten habe ich das ein oder andere Mal bewundernd den Hut gezogen und mir gewünscht, es würde ein paar mehr Libbys auf der Welt geben. "Ich werde vom Beat davongetragen, durch die Halle, hoch zu den Dachsparren, durch die Tür, durch die Schule, an Mrs Wassermans Büro vorbei, bis ich draußen bin, in der Sonne, unter freiem Himmel. Wirbel, wirbel, wirbel. Und dann bin ich im Himmel. Und dann bin ich der Himmel! Ich segle über Amos, über die Interstate 7ß, rüber nach Ohio, und von dort aus nach New York und den Atlantik, und dann nach England, Frankreich... Ich bin überall. Ich bin global. Ich bin universell." Jack hingegen ist auf den ersten Blick genau das Gegenteil eines Außenseiters: beliebt, gutaussehend, cool. Statt sich die Blöße zu geben, seinen Freunden von seiner Erkrankung zu erzählen und sich somit zu einem leichten Opfer für Streiche zu machen, hat er sich einen Ruf als Frauenheld, Charmeur und Fiesling aufgebaut, sodass sich keiner wundert, wenn er mal mit der Falschen flirtet, seine Freunde auf dem Gang ignoriert oder sicherheitshalber jeden anlächelt. Das bedeutet jedoch nicht, dass er glücklich ist. Im Gegenteil: er ist mit einem Mädchen zusammen, das früher seine beste Freundin war, die er jetzt aber nur noch als Rettungsanker braucht, um ihn durch die Highschool zu navigieren, hat Freunde, die er selbst nicht einmal mag und die ihn regelmäßig dazu bringen, Dinge zu tun, wegen denen er sich vor seinem kleinen Bruder schämt. Kein Wunder also, dass man ihn in manchen Situationen am liebsten schütteln würde. Im Grunde ist er jedoch ein ebenso liebenswerter und vielschichtiger Charakter wie Libby, den man sehr schnell ins Herz schließt. Als dann Libby kommt, die sich überhaupt nicht für die Meinung anderer interessiert, immer sie selbst und absolut und unverwechselbar nicht zu übersehen ist, rüttelt das seine Welt ganz schön durcheinander und ihre langsame Annäherung gehört zu den herzergreifendsten und authentischsten, von der ich in der letzten Zeit gelesen habe! "Ich stehe drinnen, und mein Herz rast und stolpert. Ich kann ihn auf der anderen Seite der Tür hören. Ich kann ihn fühlen. Ich weiß genau, wann er geht, zwei Minuten später, weil die Luft um mich herum wieder normal wird, kein gefährlicher Elektrosturm mehr, der jeden Moment Funken schlagen kann. Während er wegfährt setzt mein Herz immer noch einzelne Schläge aus." Dadurch dass Jennifer Niven abwechselnd aus der Sicht von Jack und Libby erzählt, kann sie geschickt mit der Fremd- und Eigenperspektive der Figuren spielen und gleich zwei schwere Themen ansprechen, ohne dass Gefühle zu kurz kommen. Die sehr kurzen Kapitel, die manchmal noch nicht einmal eine Seite lang sind, sorgen in der ersten Hälfte dafür, dass die Handlung etwas auf der Stelle tritt und erst langsam in Schwung kommt. Die Hintergründe von Libbys Übergewichts, ihrer "Hausbefreiung", Jacks Unfall oder ihrer verlorenen Jahre erfahren wir erst nach und nach durch eingeschobene Zeitsprünge in das Alter von 10 bis 14 Jahren. Solche kurzen Rückblenden begleiten uns über die ganze Geschichte hinweg und machen deutlich, dass Jacks und Libbys Wege sich schon viel früher gekreuzt haben und dass ihre Schicksale enger verknüpft sind, als die beiden wissen. Aufgelockert wird die Erzählung außerdem durch eingeschobene Listen (zum Beispiel "7 Karrieren für Menschen mit Prosopagnosie" oder "Top-2-Dinge, die mir fehlen, wenn ich nicht mit Libby zusammen bin"), Briefe oder Aufzählungen, oft mit humoristischem Inhalt. "Er sagt: "Ich dachte, wir gehen erst mal etwas essen, und dann sehen wir weiter." Aber er könnte genauso gut sagen: "Ich fahre mit dir zum Mond, und wenn wir da oben sind, hole ich dir die Sterne vom Himmel, damit du sie dir ins Haar stecken kannst." Und das ist eine weitere große Stärke der Geschichte: Jacks Charme, Libbys Sarkasmus und der allgegenwärtige Witz des Schreibstils sorgen dafür, dass genügend Fröhlichkeit die tragischen Inhalte ausgleicht. Die Autorin findet dabei ganz wunderbar eine Balance zwischen Ernst und Humor, sodass die Wichtigkeit der angesprochenen Themen nicht verloren geht, sich die jugendlichen Figuren aber nie selbst zu ernst nehmen. So ist die Geschichte trotz einiger hochemotionaler Szenen, bei denen einem die Spucke wegbleibt, ein absolutes Wohlfühlbuch, das sich wie eine warme Decke übers Herz legt und in dem man sich am liebsten häuslich einrichten würde. Obendrauf kommt dann noch die wunderschöne Message, die zwar simpel, altbekannt und logisch erscheint, die man sich dennoch immer wieder ins Bewusstsein rufen sollte: "IHR SEID ERWÜNSCHT. Dick, dünn, groß, klein, hübsch, unscheinbar, freundlich, schüchtern. Lasst euch von niemandem etwas anderes erzählen, nicht einmal von euch selbst. Erst recht nicht von euch selbst!" Fazit: "Stell dir vor, dass ich dich liebe" ist eine wunderschöne Geschichte über Außenseiter, Liebe, Besonderssein, Stärke und Mut: vielschichtig, ergreifend, humorvoll und definitiv eines der besten Jugendbüchern, die ich in letzter Zeit gelesen habe!

zurück nach oben