Profilbild von Babscha

Babscha

Posted on 19.2.2021

Was war das denn für ein Buch, das ich mir da gerade in langen Lesenächten gegeben habe, frage ich mich und schwanke im Eindruck zwischen absolut begeistert und zutiefst befremdet. Im Grunde trifft wohl Beides zu. Haupt“person“ dieses in jeder Hinsicht überbordenden Werks ist Marazepam, der Wirkstoff des unter dem Markennamen Marom R von der USA-amerikanischen Arzneimittelfirma Winston entwickelten und seit 2015 auch in der EU vertriebenen Wundermittels aus der Familie der Benzodiazepine. Ursprünglich als Angstlöser konzipiert, hat dieses Medikament aufgrund seiner unfassbaren Breitbandwirkung sowohl als Helfer gegen alle denkbaren körperlichen und geistigen Beschwerden wie auch als absolut euphorisierende, von allen mentalen oder sonstigen Hemmungen befreiende Ausnahmedroge bereits seinen Siegeszug über weite Teile der westlichen Welt angetreten und diese faktisch versklavt. Denn einmal eingeworfen, ist ein Entzug absolut nicht mehr möglich. Der Autor siedelt in seinem extrem verschachtelten und sprunghaft-konfusen Roman mit den Haupthandlungsebenen in den Jahren 2023/2024 etwa drei Handvoll zumeist selbst schwerstabhängige durchgeknallte Hauptcharaktere an, die entweder als Journalisten tätig sind, in verschiedenen Leitungsebenen des größten Fleischzerlegungsbetriebs Frankreichs oder in der hessischen Europaniederlassung des Winstonkonzerns arbeiten bzw. sich im Untergrund aktiv für radikalfeministische Ziele bzw. die Eliminierung von Neonazis in Ostdeutschland engagieren. In immer wieder neu zusammengesetzten Handlungssträngen und Zeitebenen lässt Höhtker diese ganzen Figuren in einer Vielfalt gegeneinander los, dass dem Leser/der Leserin irgendwann nur noch der Kopf raucht. Was an diesem sich einer standardisierten Bewertung aufgrund seiner ganzen Abstrusität im Grunde entziehenden Roman dennoch überzeugt ist die literarische Vision einer chemischen Droge unter dem Deckmantel eines Arzneimittels, die aufgrund ihrer Fähigkeit zur Schaffung eines permanenten irrationalen Glücksrauschs alle Beteiligten in ihren Bann zieht, jede Gegenwehr im Keim erstickt und mit fast schon eigener Intelligenz sukzessive die Kontrolle über ganze Gesellschaften übernimmt. Ebenso fasziniert die unglaubliche Sprachgewalt des Autors, die das ganze Ding zu einem irren literarischen Höllentrip verdichtet und dabei ganz bewusst und permanent hochkritische humor- bzw. sarkasmusgetarnte Ausflüge in die Niederungen der menschlichen Psyche unternimmt und dabei jede freie Willensäußerung der nur noch zombiehaft agierenden Menschen unter der Herrschaft des Marazepams vollständig negiert. Die einzelnen teils konfusen, teils sehr realitätsnahen Handlungsebenen sind dabei nur Mittel zum Zweck. Ein Ausnahmebuch mit hohem literarischem Wert? Ersteres in jedem Fall, über alles andere mag sich jeder Leser sein eigenes Urteil bilden. Extrem anstrengend ist es so oder so.

zurück nach oben