Buchdoktor
Tomas betreibt mit seinem Vater Iwan ein Reservat in der Amur-Region, nahe der Grenze zu China. Unter Putins Regierung ist hier alles möglich, von der Abholzung privater Waldbestände bis zu Jagdcamps für reiche Touristen. Als in einem Dorf in der Gegend eine Tigerin getötet wird, gerät in der Natur das Gleichgewicht einer schwindenden Tigerpopulation aus dem Tritt und beim Volk der -> Udehe begehrt Edit gegen die ihr zugedachte Rolle auf. In einem kleinen Zoo in Devon tritt derweil Frieda Bloom eine neue Stelle an und begegnet dabei einer Sibirischen Tigerin, die in genau dieser Region gefangen worden sein muss. Frieda, äußerlich gezeichnet nach einer schweren Kopfverletzung, hat ihre Stelle als Primatenforscherin verloren und gerät im Torbet Zoo mitten in den komplizierten Vater-Sohn-Konflikt der Zoo-Besitzer-Familie. Ob sie wirklich geeignet ist, als Anfängerin im Raubtier-Revier ein gestresstes Tier zu betreuen, scheint in der Situation nebensächlich. Gesundheitlich ein Wrack, erzählt Frieda aus der Ichperspektive. Allein durch ihre Ausdrucksweise hinterlässt sie einen wenig kompetenten Eindruck; denn sie rutscht mehrfach aus der professionellen Distanz der Wissenschaftlerin und bewertet Tierverhalten moralisch, anstatt es zu beschreiben. Auch zwischen Tomas und Iwan köchelt seit langem ein Konflikt. Vater und Sohn können das Camp nicht miteinander und nicht ohne einander betreiben. Tomas als erfahrener Fährtenleser kann nicht ohne den gerissenen Geschäftssinn seines Vaters existieren, der das Camp der beiden unbedingt bei einem Vertrauten Putins ins rechte Licht setzen will. Umgekehrt gilt das ebenso für Iwan. Auf dieser Basis bricht Tomas in die winterliche Taiga auf, wo er auf Edit trifft, die Frau aus dem Udehe-Volk, die dort inzwischen allein mit ihrer kleinen Tochter Sina lebt. Auch zwischen Mutter und Tochter zeichnete sich ein Konflikt ab, weil das zehnjährige Naturkind sich nicht länger von anderen Menschen fernhalten will und Edits Kräfte sichtlich schwinden. In verschachtelten Rückblenden blättert Polly Clark die Beziehungen zwischen den beteiligten Menschen auf und erzählt von der Tigerpopulation der Amur-Region. Irritierend fand ich den unterschiedlichen Raum, den die Autorin ihre Figuren einnehmen lässt. Vom Unwichtigen zum Wichtigen schienen die Abschnitte kürzer auszufallen und die Rückblenden zuzunehmen. Friedas Vorgeschichte in London und Devon nimmt ebenso viel Raum ein wie die von Tomas, Edit und Sina zusammen, der Einschub über die Tigerpopulation fällt dagegen sehr kurz aus. Da ich Friedas Sicht teils als unprofessionell empfand, war diese Gewichtung für mich unbefriedigend. Für einen ohnehin verschachtelten Plot mit mehreren Schauplätzen und sich wiederholenden Familienkonstellationen fand ich auch die zum Ende zunehmenden Szenenwechsel irritierend. Im Ausdruck nicht ohne Pathos ist „Tiger“ ein bewegender Roman, der erst langsam Fahrt aufnimmt.