Buchdoktor
Ein blindes 15-jähriges Mädchen mit weißem Stock betritt die Tiefen eines U-Bahn-Systems und damit eine fantastische Welt, die es nur in ihrer Vorstellung geben könnte. Frei laufend, begleitet ihre Abenteuer in der Unterwelt ein kleiner Hund. In einer riesigen Stützkonstruktion lauern Augen, ein Drachenschwanz ist zu sehen. Mir als sehendem Menschen zeigen sich unterschiedlichste Kacheldekors, auf dem Bahnsteig findet derweil eine eigene Handlung statt. Die Dekors verändern sich, werden von Seite zu Seite verspielter, asymmetrischer. Eine Station scheint völlig blank zu sein – für wessen Kachelentwurf? Eine Elefantenherde, die nur in der Fantasie des Mädchens existiert, führt sie schließlich wieder ins Freie. Fahren im Tunnel, Treppen, Ausgänge, jede Station anders. Liaos Welt wirkt wie ein Irrgarten, darin eine einsame Person, einsam mitten in Menschenmassen. An jedem Ausgang wartet eine andere Landschaft: Wald, Gras, Meer, Park. Was wäre, wenn sie mit Fischen tauchen könnte oder auf dem Kopf eines Blauwals geschaukelt würde? Wenn eine Station Krähenplatz heißt, ist das dann auch ihr Klang, im Empfinden einer blinden Figur? Eine Begegnung mit einem Kleinkind zeigt, dass nicht alle Menschen wahrnehmen können, dass das Mädchen blind ist. Eine Doppelseite vereint zig verschiedene Stühle – für Erzähler aller Geschichten, die noch auf uns warten? „Der Klang der Farben“ thematisiert wieder Einsamkeit und Trauer und zeigt eine Figur, die in ihrer Welt völlig allein zu sein scheint. Ob die Geschichte ein Ende hat, bleibt für mich offen. Märchenhafte Darstellungen okkupieren eine Welt, die wir im Alltag vermutlich selten als farbig wahrnehmen. Das Buch lehnt sich an Rilkes „Der Blinde“ an und richtet sich eher an Erwachsene. Mit Kindern, die Geduld für Wimmelbilder aufbringen, würde ich es dennoch betrachten.