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Buchdoktor

Posted on 13.2.2021

Márta ist Anfang vierzig, Autorin und Mutter von drei Kindern. Ihre Eltern sind 1956 aus Ungarn nach Deutschland geflüchtet. Mártas Lyrik wurde in mehrere Sprachen übersetzt; als Lyrikerin ist sie international anerkannt und arbeitet zurzeit an einem Band mit Erzählungen. In ihren wenigen freien Stunden pflegt Márta einen intensiven Mailwechsel mit ihrer Jugendfreundin Johanna. Obwohl sich die Reisewege der beiden Frauen theoretisch öfter kreuzen, gelingt ihnen nur selten ein Treffen im realen Leben. Johannas Partnerbeziehung ist an ihrer Krebserkrankung zerbrochen. Sie arbeitet wieder als Lehrerin und an ihrer Promotion über Annette von Droste-Hülshoff. Im Leben der Freundinnen wäre es Zeit für eine Lebensbilanz, doch zumindest Márta wird dazu noch zu stark vom Alltag mit kleinen Kindern ausgelaugt. Das Baby Henri wird noch gestillt und schreit sehr viel. Die Tochter im Grundschulalter erhält Zuwendung aufgrund ihrer Schulprobleme; der ältere Sohn scheint nur Beachtung zu erhalten, wenn er krank ist. Márta findet, wer Kinder habe, könne in dieser Lebensphase nicht schreiben. Objektiv ist Márta als Autorin erfolgreich; sie wird zu Lesungen ins Ausland eingeladen und bekommt Aufträge als freie Mitarbeiterin. Doch anders als ihr Mann kann sie während der Zeitfenster, in denen die Kinder versorgt sind, nicht auf Knopfdruck schöpferisch sein. Mártas Mann arbeitet ebenfalls freiberuflich als Autor. Das gemeinsame Einkommen und die verfügbare Zeit des Paares fallen stets zu knapp aus. Den Umgang mit Zeit erlebt die gestresste Mutter im Urlaub in Ungarn völlig anders, dort ist Zeit einfach da und niemand fragt den anderen: hast du Zeit? Ein wiederkehrender Konflikt zwischen den Partnern ist der gegenseitige Vorwurf, der andere fühle sich zu wenig verantwortlich für die Kinder. Weitere Figuren erweitern den Blick auf die Lebenssituation der Freundinnen. Mártas Familie wird von der Partnerin des verstorbenen Schwiegervaters unterstützt; die Márta aufgrund von Alter und Krankheit zunehmend Sorgen bereitet. Johanna unterstützt eine Freundin, Mutter mehrerer Kinder, in deren Blumenladen. Obwohl Márta tatkräftige Hilfe von ihren Eltern und Geschwistern erhält, ist sie vom Alltagschaos völlig erschöpft. In Mártas Situation ist das Glas stets halbleer, niemals halbvoll. Anfangs wirkt die Beziehung der Freundinnen sehr einseitig, Márta klagt über ihr „verhaktes Leben“, das sich jedoch kaum von der Lage anderer Familien mit kleinen Kindern unterscheidet; Johanna erhält von Márta selten Zuspruch für ihre Doktorarbeit. Innerhalb des drei Jahre dauernden Mailkontakts erobert Johanna sich in der Freundschaft Raum und kann sich mit ihrer Familiengeschichte versöhnen. Die Tonlage zwischen beiden Frauen klingt allmählich kritischer, ichbezogener, obwohl ihre Sprache große Innigkeit vorgibt. Ein klagendes „Du hast es leichter als ich“ führt eine Freundschaft auf dünnes Eis. Márta erkennt das Ungleichgewicht in ihrer Beziehung zu Johanna erst spät. In Atempausen zwischen der unmittelbaren Belastung durch die Kinder hätte ich mir von Márta einen Ansatz von Selbstkritik gewünscht. Wie viel Tunnelblick auf die eigenen Probleme verträgt diese Frauenfreundschaft, wie viel unterschwelligen Neid und wie viel Unverständnis für den jeweils anderen Lebensentwurf, habe ich mich immer wieder gefragt. Mártas Wahl ihres Buchtitels „Das andere Zimmer“ deutet neben der Anspielung auf ein Zimmer für sie allein zusätzlich eine verborgene Symbolik in ihrer Biografie als Autorin an. Er setzt sich - höchst aktuell in der Vereinbarkeits-Debatte - mit Lebensentwürfen von Autorinnen auseinander, die Mütter sind. Márta dominierte für meinen Geschmack die Handlung zu stark; die sprachliche Annäherung zweier Autorinnen im privaten Gebrauchstext fand ich jedoch sehr fesselnd, besonders das Verstecken von Alltäglichkeiten hinter sprachlichen Rüschen. „Schlafen werden wir später“, (wenn dafür Zeit ist) war durch seinen reinen Umfang und Mártas Persönlichkeit ein anstrengender Roman für mich.

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