Buchdoktor
Kazuhisa Fukase arbeitet für einen Büromaschinen- und Schulbedarfshändler und ist für den Kundenbereich Schulen zuständig. Ihm ist bewusst, dass seine Firma längst nicht mehr konkurrenzfähig ist und viele Kunden ihr trotz zu hoher Preise rein aus Nostalgie die Treue halten. Als Fukase auf dem Umweg über eine dritte Person einen Drohbrief erhält, kommen Ereignisse aus seiner Studentenzeit ans Licht, an die er ungern rührt. Vor drei Jahren hatten fünf Studenten einen Kurzurlaub in einer Hütte in den Bergen geplant. Murai, der Organisator der Fahrt, kann überraschend erst später anreisen und möchte vom Bahnhof abgeholt werden – im Auto seiner Mutter, das er seinen Freunden für die Fahrt großzügig überlassen hat. Auf der gefährlichen Bergstraße ins Tal verunglückt damals Hirosawa tödlich. Der Brief bringt die verdrängten Schuldgefühle wieder an die Oberfläche. Wer war dafür verantwortlich, dass der eher unerfahrene Hirosawa sich im Dunkeln ans Steuer setzte? Fukase begibt sich auf die Suche danach, wer sein Kommilitone früher eigentlich war - und wer heute ein Motiv für Rache an den Überlebenden haben könnte. Er muss feststellen, wie schwer es in der rituell hierarchischen Gesellschaft Japans ist, Wünsche und Träume offen auszusprechen. Er selbst gestand sich keine Träume zu und seine Harmoniebedürftigkeit ließ ihn immer wieder zurücktreten, um anderen nicht im Weg zu stehen. Der schüchterne, uncoole Fukase ist kein Sonderling, sondern das Zurücktreten zum Wohle der Gemeinschaft oder anderer Personen ist in seiner Gesellschaft unausgesprochene Norm, die er evtl. etwas stärker verinnerlicht als andere. Mit vergleichbaren Voraussetzungen war Asami Lehrer geworden, Fukase gibt sich mit dem Büroartikel-Handel zufrieden. Fukase bricht aus seiner Karriere des Hintenanstehens erst aus, als er sich für edle Kaffee- und Honigsorten interessiert und zum Kaffeespezialisten seiner Firma wird. Kaffee, Honig und teure Rindersteaks spielen im Roman eine wichtige Rolle und man könnte sich fragen, wie junge Männer am Anfang ihres Berufsweges ihre kostspieligen Schlemmerorgien eigentlich finanzieren. Fukases Recherche in Hirosawas Heimatort zeigt, wie schwer es auch dessen Freunden fällt, spontan und ohne feste Rituale über jemanden zu sprechen, mit dem sie ihre gesamte Schulzeit verbracht haben. Diese kulturell vorgegebene Sprachlosigkeit und ihre Folgen waren aus meiner Sicht das eigentliche Thema des Romans. So detailverliebt wie Kanae Minato die Ereignisse schildert, habe ich mich wie im klassischen Detektivroman gefühlt, in dem die entscheidende Spur theoretisch vom Leser entdeckt werden könnte. Auch wenn es hier keine Tatortspuren zu sichern gibt, entlarvt die Lösung des Falls doch ritualisierte Normen einer Gesellschaft, in der aus der Perspektive außenstehender Leser Konsens nicht immer die beste Lösung zu sein scheint.