Buchdoktor
Als jüngster Teilnehmer im Pfadfinderlager und Trompeter für den morgendlichen Weckruf hat Nelson eine Sonderrolle. Ob ein eigenes Zelt ein Privileg ist, wenn in der Wildnis Wisconsins nachts ein Stachelschwein vor der Latrine herum raschelt, darüber kann man geteilter Meinung sein. Nelson ist nicht gefragt worden, ob er Pfadfinder sein möchte. Vater und Großvater waren schon dabei und betrachteten das Leben als Pfadfinder schlicht als Teil der Erziehung eines Mannes, der später in die US-Armee eintreten wird. Kurz vor dem Sommerlager in den 60ern des vorigen Jahrhunderts hat Vater Clete Nelson zurechtgestutzt, der bis dahin noch nie einen Freund hatte. Es wäre Zeit, dass Nelson sich wie ein Mann benimmt, Freundschaft würde man schließlich nicht in der Kindheit schließen, sondern in der Armee. Nachdem der Großvater Teilnehmer des Ersten Weltkriegs war und Vater Clete Soldat im Zweiten Weltkrieg, erhofft Nelson sich, spätestens vom Vater anerkannt zu werden, wenn er selbst zur Armee geht. Nelsons Erlebnisse im Camp Chippewa beschreibt Nickolas Butler in alles andere als idyllischen Details. Nirgendwo ist der nächtliche Wald unheimlicher als bei Butler, nirgendwo trommelt Regen eindrucksvoller auf die Zeltplane als in diesem Camp. Nelson lernt in diesem Sommer Entscheidendes „fürs Leben“: einigen Menschen klimpert Geld in der Tasche, während andere gerade für sie im Dreck stecken. Dass Nelson schon mit 13 sein Elternhaus verlässt, um auf die Militärakademie zu gehen, hat mich überrascht, aber seine Familiengeschichte ließ offensichtlich keinen anderen als den vom Vater und Großvater ausgetretenen Weg zu. 30 Jahre später ist Jonathan Quick, der einzige Junge, der je an Nelson Interesse gezeigt hat, Vater eines Sohnes, der wiederum am Pfadfinderlager Camp Chippewa teilnehmen wird. Jonathan hat den elterlichen Betrieb übernommen und die Erwartungen der älteren Generation damit erfüllt. Leiter des Camp Chippewa ist inzwischen Nelson, der nach seinem Einsatz mit den Green Barrets im Vietnamkrieg und unsteten Wanderjahren dort eine Heimat und einen neuen Lebensinhalt gefunden hat. Wieder werden einige Väter mit am Lager teilnehmen. Nicht von allen wird klar sein, welche Funktion sie dort innehaben oder welche Kompetenz als Betreuer sie mitbringen. Zwischen Jonathan und seinem Sohn Trevor scheinen die Rollen im Gegensatz zur vorigen Generation vertauscht zu sein. Der Vater kauft für eine Sauforgie im Lager ein; Trevor in der Rolle des Erwachsenen fragt sich, wie Jonathan seine Vorräte überhaupt vom Parkplatz ins Lager schaffen und welche Peinlichkeiten er sich dort noch leisten wird. Auch hier gab es kurz vor dem Camp eine Aussprache zwischen Vater und Sohn. Jonathan will dem 16-Jährigen offenbar die Liebe zu seiner Freundin Rachel ausreden und vergreift sich dabei erheblich im Ton. Im mittleren Teil des Romans handeln Butlers Figuren kaum, versteigen sich zu schwer erträglichem Pathos und stellen damit die Geduld der Leser auf eine harte Probe. Wieder eine Generation später bereitet sich Rachel, Trevors Jugendliebe, mit ihrem Sohn Thomas auf das sprichwörtliche Sommercamp vor. Mit Rachel haben sich die eingefahrenen Routinen geringfügig geändert. Sie ist Feldbiologin, liebt die Natur, und anders als die Väter-Generationen vor ihr, sieht sie ihren Sohn realistisch und spricht Konflikte mit Thomas direkt an. Mit der Tradition ganz zu brechen, wagt Rachel offenbar nicht. So wird Thomas von ihr gedrängt, seinem Vater zuliebe noch ein letztes Mal gute Miene zum Spiel zu machen. Ihr Sohn ist typisches Mitglied der Generation Handy und hat nicht vor, das im Camp zu ändern. Ein weiterer Zeitsprung in die Zukunft des Jahres 2019 zeigt Rachel und Thomas in ungewöhnlicher Umgebung. Die beiden abschließenden Abschnitte bildeten für mich einen sonderbaren Gegensatz zum ersten Teil mit seinem Fokus auf einem gemobbten Außenseiter, der die Träume seines Vaters verwirklicht, der alles andere als ein Held war. „Die Herzen der Männer“ wirft die Frage auf, warum Eltern ihre Kinder rücksichtslos nötigen, in die eigenen Fußstapfen zu treten, auch wenn der gesunde Menschenverstand dagegen spricht. Pfadfindertugenden als Vorstufe zu soldatischer Disziplin, wie auch ein kindlicher Glaube an „das Böse“ werden im Roman nicht infrage gestellt, das müssen Butlers Leser schon selbst übernehmen. Gesellschaften, die ausgetretene Pfade nicht verlassen können und auf fixen Rollenzuschreibungen beharren, werden kaum in der Lage sein, die Probleme der Gegenwart zu lösen. Dass Rachels Zeitgenossen für eine Frau wie sie offensichtlich noch nicht bereit sind, bildet eine interessante Verknüpfung zur aktuellen politischen Situation in den USA. Ein Buch über Väter und Söhne, nicht nur für Männer; denn es sind Frauen, die mit diesen Männern leben und die gemeinsamen Söhne erziehen. ----- Zitat „20 Jahre, denkt sie [Rachel]. Und wir kämpfen immer noch gegen dieselben Leute in denselben Ländern. 20 Jahre.“ (Seite 415)