Buchdoktor
Erwin war traumatisiert aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgekehrt, würde man aus heutiger Sicht sagen. 1949 im fiktiven (damals amerikanisch besetzten) Rillingsbach sahen die Dorfbewohner den großen, kräftigen Kerl schlicht als durchgeknallt an und als eine Gefahr für andere Menschen. Als Erwin ein Kind bedroht, findet man ihn anschließend tot im Schuppen. Die alarmierten Polizisten waren gerade erst von den amerikanischen Besatzern in ihr Amt eingesetzt worden und reichlich ahnungslos, wie in einem ungeklärten Todesfall zu ermitteln ist. Jahre später wird Erwins Tochter bei den Behörden mit ihrem Wiederaufnahmeantrag abblitzen. Geschichten wie Erwins erzählt man sich in Rillingsbach im „Schippen“, wo Martha bedient, die damals schon dabei war. Ein Chronist saugt die Dorfgeschichten auf und notiert sie. Von ihm wissen die Leser lange nur, dass er zur jüngeren YouTube-Generation gehört. Ein Chronist kann sich raushalten, sich mit der präsentierten Fassade und mit den Lebenslügen der Anwesenden zufriedengeben. Der Fremde erfährt, wie Frieders Vater, der Oberscharführer, nach dem Krieg von den Amis gedrängt wurde, „freiwillig“ die Dorfbücherei zu entnazifizieren, wie Lehrer Mangelhardt noch schnell die Werke des einzigen (NS-)Autors aus dem Dorf vor der Vernichtung gerettet und einen verdächtigen Autor in die Schule eingeladen haben soll. Mangelhardt hätte in den letzten Kriegstagen noch Kinder in die Schlacht geschickt, sagt man, wenn ihm nicht eine vernünftigere Person entgegengetreten wäre. Die Amis bringen Comics und amerikanische Romane in den Ort. Für Elisabeth, Hildes Mutter, hält das Amerika-Haus in der nahen Stadt einen sicheren Job bereit und ermöglicht ihr, sich ihrem Laster Literatur hinzugeben. Als Hilde sich immer weiter von ihrer Mutter distanziert, lässt sich nicht mehr übersehen, dass die Kriegs- und die Nachkriegsgeneration längst miteinander hätten reden müssten. Alfred wiederum hat einen Narren am Reiseland USA gefressen und bereist mit Erna dort alle Orte, an denen in den 60ern ein Prominenter ermordet wurde. Kai Wieland spinnt seinen Roman um das Thema Erinnern und zwingt mit klug gewählten Zitaten an jedem Kapitelanfang zum Nachdenken, wie zuverlässig unsere eigenen Erinnerungen wohl sind. Mit seinem Chronisten schafft er Distanz, grenzt sich als Autor aber auch ab von der Beziehungsebene, auf der in Rillingsbachs Familien eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hätte stattfinden müssen. Schließlich sind dort nach 1945 Schüler einer ganzen Generation von einem Alt-Nazi unterrichtet worden, ohne dass es jemanden geschert hätte. Im „Schippen“ führen Männer das Wort, so dass es nicht verwundert, wenn Elisabeths, Hildes und Marthas Sicht der Dinge vom Chronisten nur kurz abgehandelt werden. Diese Knappheit fand ich etwas unbefriedigend. Ihm „mangele es an Phantasie“, stellt er zum Ende seines Manuskripts fest. Als die Handlung sich den 60ern und 70ern und damit den Enkeln der Kriegs-Generation näherte, konnte ich mich sehr viel leichter als zu Beginn des Romans in die Figuren hineinversetzen. Ob der Chronist doch nicht so neutral ist, wie er vorgibt? Als unterschätztes Manuskript, das erst durch den Blogbuster-Wettbewerb entdeckt wurde, entfaltet „Amerika“ das Thema Erinnern erst allmählich, jedoch lange nachwirkend.