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Buchdoktor

Posted on 10.2.2021

Jenni Köhn ist zur Beerdigung ihrer Mutter nach Klein Krebslow zurückgekommen. Sie muss schon länger nicht mehr in der Siedlung gewesen sein und findet in der Wohnung einen an sie adressierten Umschlag mit einem Manuskript. Jennis Jugendfreund Sascha hat im Alter von 15 Jahren die Geschichte des Sommers zwei Jahre zuvor niedergeschrieben, als Jenni kurz nach der Wende neu in seine Klasse kam. Der Physiklehrer Gröhnwald fragte damals nach dem Unterschied zwischen Wissen und Annahmen und wie man eine Annahme beweisen könnte. Kurz nach der Wende muss das eine nahezu revolutionäre Frage gewesen sein, die Gröhnwald mit dem Hinweis krönte, seine Schüler sollten nicht alles glauben, was in irgendwelchen Büchern zu lesen ist. Gröhnwalds Frage läutete einen fulminanten Vortrag der neuen Schülerin über das Weltall ein, die Lehrer und Schülern den Mund offen stehen ließ. Jenni, fasziniert vom Thema Raumfahrt, nannte sich nach Gagarin „Juri“, obwohl ihr Idol eigentlich Walentina Tereschkowa war. Juris selbstbewusster Auftritt konfrontiert Sascha damit, dass Wissensdurst nicht peinlich sein muss und offenbar auch andere Menschen für ein Thema brennen. Sascha sammelt in einem Notizbuch ungewöhnliche fremdsprachliche Wörter, für die es keine deutsche Übersetzung gibt. Er und sein bester Freund Sonny gelten in der Siedlung bisher als Luschen. Das könnte sich in Sonnys Fall bald ändern, falls er mit einem selbst komponierten Song den Wettbewerb gewinnt, auf den er sich gerade vorbereitet. Der Stadtteil Klein Krebslow versprach seinen Bewohnern einmal ungewohnten Komfort, gerät nach der Wende jedoch in eine Abwärtsspirale aus Abwanderung, Zerfall und Gewalt. Die Ernüchterung der Erwachsenen über das neue politische System wird Jüngeren erst allmählich bewusst. Juri öffnet Sascha die Augen für die Welt außerhalb seines Kinderzimmers, als sie ihn „Herrn Reza“ vorstellt, der ein vollendet altertümliches Vokabular pflegt. Offenbar haben sich hier zwei Wörterfinder getroffen. Juri und Herr Reza bieten Sascha ein völlig neues Universum und einen anderen Blickwinkel auf Erwachsene. Die Spirale aus Resignation und Gewalt im Viertel führt schließlich zur „Monsterkatastrophe“, nach der Juri damals verschwunden ist. Während die erwachsene Juri sich durch Saschas umfangreiches Manuskript arbeitet, habe ich mich gefragt, ob es eine alternative Sichtweise auf die Ereignisse geben könnte. Juris Besuch in ihrer alten Heimat liefert die Rahmenhandlung zu einer anrührenden Coming-of-Age-Geschichte, erzählt aus der Ichperspektive eines damals 13-Jährigen. Björn Stephans Roman überzeugt mit sensiblem Blick auf eine Jugend kurz nach der Wende und authentisch ostdeutschem Wortschatz.

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