Buchdoktor
Kyoko Oguri geht in die 5. Klasse einer japanischen Grundschule. Mit ihrer allein erziehenden Mutter hat sie es nicht leicht; denn die pflegt einen außergewöhnlichen Sauberkeitswahn und hat Bedenken, die Nachbarn könnten etwas an ihrem Lebenswandel auszusetzen haben und sie irgendwo denunzieren. Die Wortwahl wirkt für die Gedanken einer elfjährigen Schülerin anfangs sonderbar, selbst dann noch, als ich als Leser realisiert hatte, dass die Ereignisse 20 Jahre her sind und die Ich-Erzählerin inzwischen Anfang 30 ist. Mutter und Tochter haben spürbar Probleme, miteinander eine angemessene Sprache zu finden für Themen, die nur sie betreffen, im Unterschied zur öffentlichen Sprache gegenüber Fremden. Eigentlich sollte Japanisch unterschiedliche Vertrautheit abbilden können, dachte ich verblüfft. Kyokos Lehrer wendet für asiatische Verhältnisse ungewöhnliche Lehrmethoden an. Jeder Schüler soll ein Selbstlern-Heft zu einem frei gewählten Thema anlegen, doch nicht alle Schüler finden ein Thema. Dass seine Schüler mit der Aufgabe überfordert sein könnten, scheint Fujimura-sensei nicht in den Sinn zu kommen. Kyoko darf das Thema nicht wählen, das sie am stärksten interessiert, Vorgänge, die es nur in ihrem Kopf gibt. Sie beschließt, für dieses Thema heimlich ein eigenes Heft zu beginnen. Ihre Klassenkameradin Hiroko schreibt einfach über Armut und warum sie sich selbst als arm einstuft. Kyoko bewundert, wie offen und prägnant Hiroko sich ausdrücken kann und wie klar ihre Schrift wirkt. Lehrer Fujimuras Selbstlernhefte wirken umso sonderbarer, als Selbstständigkeit und eigenständiges Denken der Schüler unerwünscht ist und ihnen allein Parolen abgefragt werden, deren Inhalt niemand füllt. In der Schule gibt es ebenfalls Probleme mit unterschiedlichen Sprachniveaus. Die Tabu-Themen Mobbing und dass es einigen Schülern gesundheitlich nicht gut geht, treten erst zutage, als eine Schülerin stirbt. Sie ist offenbar nicht die erste. Kyoko fragt sich nun, welches die Welt ist, ihre kleine Familie, die Schule oder etwas bisher Unbekanntes. Wie auf dem Plan eines Verkehrsverbundes betreten Yoshimuras Leser von innen nach außern nach Familie, Nachbarschaft und Schule gemeinsam mit Kyoko die nächste Zone, die Gemeinschaft von Umizuka, einem kleinen Ort, der zur Stadt Kaizuka in der Bucht von Osaka gehören könnte. Ein fatales Problem mit Krankheiten und Umweltschäden, die an eine Atomkatastrophe denken lassen, wird dort mit einigem Aufwand vertuscht. Mit diesem Wissen lassen sich die Ängste von Kyokos Mutter völlig anders einordnen. Wem bewusst wird, wo Kyoko sich heute befindet, als sie diesen Text schreibt, der wundert sich vermutlich auch nicht mehr über die sonderbare Wortwahl im ersten Kapitel. Die japanische Kultur zeichnet sich durch strenge Hierarchien aus und durch die Eigenheit, Konflikte selbst dann noch zu leugnen, wenn sie allen anderen außer den Japanern längst bewusst sind (siehe Japans Kriegsverbrechen und die fehlende Auseinandersetzung mit menschlichen Fehlern). Wer bereit ist, sich auf die Erzählperspektive einzulassen, kann hier einer Elfjährigen dabei folgen, wie sie allmählich ein Pauksystem als Vorstufe zu totalitärer Herrschaft und sektenartiger sozialer Kontrolle erkennt. Wer Atwood und Ishiguro mochte, sollte mit Yoshimuras Dystopie einen Versuch wagen …