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Buchdoktor

Posted on 8.2.2021

Auf das tasmanische Flinders Island wurden 1830 die letzten tasmanischen Ureinwohner zwangsumgesiedelt, die fast alle an Krankheiten oder Alkoholismus starben. Gouverneur von Tasmanien/Van Diemens Land war 1836-1843 Sir John Franklin, bekannt durch seine Arktis-Expeditionen (1818-1827, 1845 …). Lord und Lady Franklin kamen mit hochfliegenden Plänen auf die Insel, um den dort lebenden „Wilden“ europäische Kultur zu vermitteln. Vermutlich scheiterten sie auf der Spielwiese des Kolonialismus an ihrer Herablassung gegenüber fremden Kulturen und dem Unwissen der damaligen Zeit über den Verbreitungsweg ansteckender Krankheiten. Mit fast 50 Jahren nimmt die kinderlose Jane Franklin ein siebenjähriges einheimisches Mädchen bei sich auf, das sie im Text stets „ihr Projekt“ nennt und das sie zu „natürlichen weiblichen Tugenden“ dressieren will. Mathinna in einem roten Seidenkleid wird als Kind vermutlich von John Franklin missbraucht, für den sie sprachlich – in diesem Text – nicht zu existieren scheint. Als die Franklins wieder nach England zurückkehren, wird Mathinna in ein Waisenhaus gesteckt, in dem sich auch andere Familien ihrer unerwünschten Kinder entledigen, und stirbt bald darauf nach einem deprimierenden Abstieg in die Prostitution. Weil Lady Franklin sich später an Charles Dickens um Hilfe wandte, um den Kannibalismus-Vorwurf gegen ihren Mann auf seiner letzten Expedition zu entkräften, spielt ein Handlungsfaden in Dickens Familie und seinem neu gegründeten Theater in London. Flanagan schildert Dickens als Jammerlappen, der selbst am Zusammenbruch lavierend, darüber lamentiert, dass alle Frauen in seinem Leben an allem Schuld wären, besonders der ausgelaugte Körper seiner Frau nach 10 Geburten. Auch Franklin kommt schlecht weg bei Flanagan. Ihn erlebt man als Weichling, in dessen Ruhm sich Jane Franklin zu gern gesonnt hätte. Auf mehreren Zeitebenen kann man den Franklins nach Tasmanien und 20 Jahre später nach London folgen, Franklin auf seine letzte Expedition und Mathinna bei ihrem Absturz in die Prostitution. Flanagan versetzte mich in Wechselbäder zwischen Faszination und Abscheu. Fasziniert, wie scharfzüngig er Franklin und seine Zeitgenossen entlarvt in ihrer Scheinheiligkeit gegenüber den Ureinwohnern Australiens und zugleich abgestoßen von Franklin als lüsternem altem Knacker, der dem „Projekt“ seiner Frau Gewalt antut. Nach Überstehen dieser Wechselbäder finde ich Flanagans Kreisen um den Begriff „Begehren“ sehr treffend, da er die Gier der Kolonialmächte nach Ruhm und Reichtum ebenso umfasst wie die persönliche Habsucht einzelner. Auch bei Jane Franklins Sucht nach dem Schatten berühmter Männer handelt es sich um Begehren. Flanagan schreibt im Nachwort, dass viele Franklin betreffende Interpretationen pure Spekulationen seien und sein Roman kein historischer Text wäre. Fakt sind Dickens als rassistisch zu interpretierender Artikel und die reale Person der Mathinna. Als weitere Perspektive auf John Franklins Leben kann man den Roman lesen, aber auch als Blick auf die Kolonialzeit aus der Perspektive der südlichen Halbkugel. Schade finde ich, dass die Buchcover für Flanagans Romane kein gemeinsames Design mehr erhalten, wie man bei „Tod auf dem Fluss“ noch hoffen konnte.

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