Buchdoktor
Der Nachtclub-Besitzer Dexter Styles lebt samt Familie und Personal in einem Haus direkt am Strand. Männer wie er haben früher Alkohol geschmuggelt. Seine Geschäftspartner lädt er zu sich nachhause ein, um Vertrauen aufzubauen. Familienväter halten sich an Regeln, signalisiert er ihnen damit. Auch Eddie Kerrigan nutzt diesen Code und bringt seine kleine Tochter Anna mit zum geschäftlichen Treffen in der Strandvilla. Der soziale Unterschied zwischen Unterwelt-Boss und seinem Laufburschen könnte nicht krasser sein. Die Kerrigans leben in den 30ern mit Anna und einer älteren behinderten Tochter in einer Mietwohnung im 6. Stock und kommen finanziell kaum über die Runden. Den Rollstuhl für Lydia müssen sie privat finanzieren. Anna und ihre Mutter Lydia verdienen zwar mit Näharbeiten etwas dazu; Eddie ist jedoch dringend auf die Aufträge angewiesen, die er als wandelndes Kassenbuch für Styles erledigt. Anna durchschaut die Beziehung der beiden Männer instinktiv, Eddie ahnt das und wird sie nie wieder mitnehmen zu einem Geschäftstermin. Eigentlich müsste Eddie besser verdienen; denn wenn es der Schifffahrt so schlecht geht wie jetzt, blühen in einem Hafen stets die krummen Geschäfte. Rückblicke zeigen, wie Eddies Karriere als Berufsspieler und Varieté-Künstler begann, wie er dabei seine Frau kennenlernte und wie sich sein Verhältnis zur heranwachsenden Anna entwickelte. Einige Jahre später hat Anna einen kriegswichtigen Job im Hafen von Brooklyn beim Bau des Schlachtschiffs Missouri. Kurz blitzt bei mir die Frage auf, wie Annas Mutter allein mit der behinderten Lydia zurechtkommt; denn Eddie ist nach dem Anfangskapitel einfach verschwunden. Weil die Werftarbeiter im Krieg sind, übernehmen Frauen ihre Arbeitsplätze, leisten auch schwere körperliche Arbeit. Tagsüber arbeiten die Frauen für die amerikanische Marine, nach Dienstschluss haben sie sich wieder den Normen jener Zeit zu unterwerfen. Eine unverheiratete Frau kann auf keinen Fall allein wohnen, bekräftigt Annas Mutter, als sie selbst New York verlassen will. Anna spielt das Maskottchen ihres Teams, ist respektlos und unpünktlich, als wolle sie ihre Entlassung provozieren. In einem Hafen ließe sich sicher auch anders Geld verdienen; Anna weiß nur noch nicht wie. Als sie den ersten Marinetaucher mit einem Kugelhelm sieht, malt sie sich dessen Arbeit unter Wasser aus und fragt sehnsuchtsvoll: „Ob sie uns das je erlauben?“ Berufstaucher bergen Leichen aus den Hafenbecken, Schrott aus den Schifffahrtsrinnen und führen unter Wasser Reparaturen an Schiffen aus. Obwohl Frauen für den Job nicht erwünscht sind, bewirbt Anna sich. Die Macht, eine wichtige Tätigkeit zu beherrschen und davon erzählen zu können, wird sie nicht wieder loslassen. Auch die Familie Styles bleibt vom Zweiten Weltkrieg nicht unberührt. Ihr Neffe wartet gerade auf seine Einschiffung nach Europa. Ein möglicher U-Boot-Krieg könnte direkt vor ihrem Haus stattfinden an der Einfahrtsrinne nach Manhattan. Jennifer Egan berichtet im Interview, sie hätte für Manhattan Beach mit Zeitzeugen gesprochen und ihre Briefe gelesen. Die Figur einer Frau als Marinetaucherin mit kiloschwerer Ausrüstung sei rein fiktiv, weitergesponnen aus der Notwendigkeit, dass Frauen im Zweiten Weltkrieg Männerarbeiten übernehmen mussten. Von „Manhattan Beach“ hatte ich erwartet, Anna als Berufstaucherin würde im Mittelpunkt stehen. Die Handlung entwickelte sich zwar anders als erwartet, aber für mich doch zu einem großartigen historischen New-York-Roman mit Anna als Verbindung gegensätzlicher Milieus. Sie stand mit einem Bein in der kriegswichtigen Wirtschaft, mit dem anderen auf Seiten der Unterwelt-Clans und ihrer Geheimnisse. In diese Welt irischer Gewerkschafter, italienischer Mafiosi und New Yorker Geschäftsleute führt Jennifer Egan ihre Leser und lässt ihre Figuren auf beiden Seiten einträgliche Geschäfte machen. Wie die Anfangsszene mit Dexter Styles bereits vermuten ließ, werden sich die Wege der Beteiligten noch einmal kreuzen. Die symbolische Bedeutung des Tauchens in die „Unterwelt“ für Anna erschließt sich am Ende ebenso wie die Rolle Eddies. Dass die Autorin Figuren einfach verschwinden lässt und mich im Unklaren darüber lässt, ob ich sie noch im Kopf behalten sollte, ist bei umfangreichen Romanen nicht mein Fall. Von dieser Hürde abgesehen, hat Egan mich mit ihrer peniblen Recherche und dem Schauplatz Marinewerft sofort eingefangen. Da die Spoilergefahr bei diesem Roman groß ist, sollte man sich einfach überraschen lassen, ohne vorher zu viel über „Manhattan Beach“ zu lesen.