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dorli

Posted on 7.2.2021

Lisa Wingate erzählt in ihrem auf wahren Begebenheiten basierenden Roman „Libellenschwestern“ die Geschichte der Kinderhändlerin Georgia Tann. Georgia Tann war Leiterin einer Zweigstelle der Tennessee Children's Home Society in Memphis und hat in den 1920er bis 1950er Jahren unzählige Kinder aus Krankenhäusern stehlen und von der Straße weg entführen lassen, um sie dann zahlungskräftigen Kunden zur Adoption anzubieten. Während Tann sich in der Öffentlichkeit als wohltätige, liebevolle Frau präsentierte, die Kinder aus ärmlichsten Verhältnissen „rettet“ und ihnen Gutes tut, wurden die Kinder in der Realität unter unwürdigen Bedingungen in Heimen untergebracht und dort bis zu ihrer Adoption resp. ihrem Verkauf vernachlässigt, misshandelt und oft sogar missbraucht. Dieses schreckliche Schicksal ereilt im Sommer 1939 auch die Kinder der (fiktiven) Familie Ross. Briny und Queenie Ross sind Flusszigeuner. Sie leben mit ihren fünf Kindern auf einem Hausboot, schippern den Mississippi auf und ab und führen ein karges, aber glückliches Leben. Als die schwangere Queenie in den Wehen liegt und es zu Komplikationen kommt, rät die Hebamme den Eheleuten, sich schnellstens in ein Krankenhaus zu begeben. Die 12-jährige Rill verspricht ihrem Vater, auf ihre jüngeren Geschwister aufzupassen, bis er wieder zurück ist, ohne jedoch auch nur zu ahnen, wie viel ihr dieses Versprechen abverlangen wird… Neben dem historischen Geschehen gibt es einen weiteren Handlungsstrang, der in der Gegenwart spielt. Hier lernt der Leser Avery Stafford kennen. Avery ist Juristin und unterstützt derzeit ihren erkrankten Vater bei dessen Aufgaben als Senator von South Carolina. Ein Besuch in einem Pflegeheim steht an. Während der Feierlichkeiten zu Ehren einer hundertjährigen Bewohnerin begegnet Avery der 90-jährigen May Crandall. May schnappt sich nicht nur Averys Libellenarmband und behauptet, dass es ihr gehört, sie besitzt auch ein Foto, auf dem eine Frau abgebildet ist, die große Ähnlichkeit mit Averys Großmutter Judy hat… Lisa Wingate hat einen mitreißenden Schreibstil, der mich schnell in das Geschehen hineingezogen und durchweg gefesselt hat. Die Autorin erzählt anschaulich und eindringlich von Rills Erlebnissen und schildert sehr realistisch das unsägliche Leid, die Schikanen und die Misshandlungen, die Rill und ihre Geschwister erdulden müssen, so dass man als Leser eine recht genaue Vorstellung davon bekommt, was die Kinder alles durchgemacht haben. Lisa Wingate hat auch eine kleine Liebesgeschichte in ihren Roman eingebaut. Avery knüpft zarte Bande zu einem Mann, den sie kennenlernt, während sie ihre Familiengeschichte durchleuchtet. Diesem Part hat die Autorin genau das richtige Gewicht verliehen - ein schöner Gegenpol zu den grausamen, in der Vergangenheit spielenden Abschnitten. Der Leser bekommt die Möglichkeit durchzuatmen, dennoch wird der Intention des Romans - auf die skandalösen, bis heute nachwirkenden Ereignisse aufmerksam zu machen - nicht die Kraft genommen. Ich hatte vor dem Lesen dieses Buches noch nie von Georgia Tann und ihren Machenschaften gehört und bin immer noch entsetzt, wie viele Jahre sie ihr barbarisches Netzwerk aufrechterhalten konnte und wie viele einflussreiche Menschen aus Politik und Gesellschaft dieser habgierigen Frau ihre Lügen geglaubt und sie unterstützt haben, ohne dabei an die Kinder und die Folgen für sie und ihre Familien zu denken. Obwohl Lisa Wingate am Ende aufzeigt, dass es durchaus einigen Kindern trotz der erlebten Schrecken vergönnt war bzw. ist, ein gutes und erfülltes Leben zu führen, bleibe ich ergriffen und erschüttert zurück. „Libellenschwestern“ hat mich von der ersten bis zur letzten Seite fest im Griff gehabt. Ich habe mit den Akteuren gelebt und gelitten, habe mit ihnen gebangt und gehofft und habe Kummer und Furcht genauso mit ihnen geteilt, wie die kleinen Glücksmomente. Eine fesselnd erzählte, berührende Geschichte, die lange nachklingt.

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