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Buchdoktor

Posted on 6.2.2021

Nishino fragte schon als Schüler sehr direkt Frauen über Sex aus. Er hatte stets mehrere Beziehungen gleichzeitig. Seine Partnerinnen waren Mitschülerinnen, Kolleginnen, Nachbarinnen, verheiratete Frauen. Sie wussten voneinander, einige waren ebenso direkt an Sex interessiert wie Nishino. In kleinen japanischen Wohnungen mit dünnen Wänden hören die Nachbarn unweigerlich mit, wenn jemand ständig mit verschiedenen Frauen telefoniert. Nishino reizte offenbar die Zurschaustellung seiner parallelen Beziehungen; die Frauen sollten sich klar darüber sein, dass er nicht sie persönlich liebt, höchstens die Liebe an sich. Wenn eine Frau Schluss mit ihm macht, steht die nächste bereit. Er muss nichts entscheiden, keine Verantwortung für sein Handeln tragen. Erzählt wird das Liebesleben des N. in der Ichform von 10 Frauen, die in ihrem Bericht jeweils viel über sich selbst preisgeben. Durch die Ichform wirken die Stimmen anfangs austauschbar. Erst wenn Nishino die jeweilige Liebhaberin anspricht, taucht deren Vorname im Text auf. Während ich die Berichterstatterinnen für glaubwürdig gehalten habe, sät Hiromi Kawakami von Beginn an Zweifel an Nishino. Kann man ihm glauben? Kann ein gestresster japanischer Salaryman, der bis 23.00Uhr im Büro ist, so viel Zeit in seine parallelen Beziehungen investieren? Ist er ein Schwindler, ein Serienmörder? Seine Beziehung zu Natsumi, deren Tochter er offen anflirtet, wirkt verdächtig. Welche Mutter lässt sich auf so eine Beziehung ein, habe ich mich gefragt. Würde sich das Verhalten der Frauen Nishino gegenüber im Laufe des Romans ändern (die Handlung umfasst Nishinos Leben von der Schulzeit bis zum Tod)? Würde sich eine Frau in diesem Jahrtausend von einem Mann, deren Vorgesetzte sie ist, so grausam behandeln lassen, wie Manami? Würde eine Frau, die den Mechanismus durchschaut, heute dennoch auf den Herzensbrecher reagieren wie eine Marionette? Hoffnung scheint es zu geben; denn die 20-jährige Ai und ihre Freundin sind beide nicht begeistert vom 50-Jährigen Don Juan. Kawakami schildert in sachlichem Ton zum großen Teil Dreiecksbeziehungen: Liebhaber, Mutter und Tochter, Liebhaber und zwei seiner Geliebten, Liebhaber, Frau und Ehemann, Liebhaber, Frau und ihre zugelaufene Katze, aber auch eine vom Vater verlassene Icherzählerin oder den Liebhaber und seine verstorbene Schwester. Der Text ist selbst für konzentrierte Leser herausfordernd, weil die Ereignisse nicht chronologisch erzählt werden und man die Puzzlestücke selbst zusammensetzen muss. Wenn ich Nishinos Liebeleien als Spiegel meiner Erwartungen sehe, habe ich darin durchaus Neues erfahren.

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