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Buchdoktor

Posted on 6.2.2021

Waclaws Kollege Mátyás ist einfach verschwunden von der Ölbohrplattform vor der Küste Marokkos. Ein unbedachter Moment, einmal die Sicherungsleine nicht richtig einhaken kann einen Arbeiter hier das Leben kosten. Waclaw kann nicht erkennen, dass sein Kollege gesucht wird, auch wenn die gesamte Plattform nach ihm durchsucht wird. Den Seesack seines Gefährten wird er nach Ungarn zu Mátyás Schwester bringen, auf einer Odyssee per Hubschrauber, Boot und als Tramper. Beide Männer waren sich im Laufe ihrer Arbeit auf Bohrinseln mehrfach begegnet, hatten schließlich am Arbeitsplatz vor Marokko eine Kabine geteilt. Für den Teil ihres Lebens, der nicht in einen Spind oder einen Seesack passt, mieteten sie sich gemeinsam ein Zimmer. Möglich, dass sie einander mehr waren als Arbeitskollegen. Waclaw tritt unter zwei Namensvarianten auf, in der deutschen und der polnischen Form. Seine beiden Identitäten durchquert er während seiner Reise, fügt dabei aus willkürlich aneinandergereihten Abschnitten schließlich die Biografie eines global eingesetzten Arbeiters zusammen. Waclaws Vater arbeitete im Ruhrgebiet als Bergmann, trug unter Tage seine Gesundheit zu Markte, bis er nicht mehr konnte. Waclaw lebte später mit seiner Frau in Polen; beide Jobs reichten ihnen nicht zum Leben. Er war Schulhausmeister und Vogelwart, bis ihn jemand überzeugte, auf einer Bohrplattform könne er gutes Geld verdienen. Waclaw wird zum Arbeitsnomaden, der ein- oder zweimal im Jahr nachhause kommen kann. Irgendwann macht er Schluss mit Milena und kommt gar nicht mehr. Waclaws düstere Odyssee führt ihn zu Alois, den er seit seiner Kindheit kennt und dessen letzten Wunsch er erfüllen wird. Alois beste Brieftaube soll noch einmal über die Alpen gebracht und auf die Reise geschickt werden. Alois Tauben haben damals Waclaws Sehnsucht geweckt, die Bergarbeitersiedlung zu verlassen und ihn schließlich zu seiner Arbeit „auf den Wassern“ geführt. Anja Kampmann erzählt nicht von den Arbeitsnomaden der Neuzeit, sie reiht Bilder aneinander, die sich allmählich zu Waclaws Lebenslauf zusammenfügen: Der Seesack, der Anzug, die Brieftaube, das Messer, das Milena ihrem Mann in die Fremde mitgibt, die Steinpilze, die sie in Polens Wäldern sammeln, Waclaws geschröpfter Rücken bleiben mir unvergesslich. Anfangs habe ich Beschreibungen vermisst, wie eine Bohrplattform klingt, wie sie riecht; suchte Antworten, wer dieser Waclaw ist und welche Art Beziehung er zu Mátyás hatte. Bald sprachen jedoch die Bilder für sich. Kampmanns Bildersprache wird manchen Leser herausfordern, dem Leben dieser modernen Nomaden finde ich sie rückblickend angemessen.

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