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Buchdoktor

Posted on 4.2.2021

Auggie kommt aus dem Ausland zur Beerdigung ihres Vaters nach Brooklyn zurück und begegnet nach langer Zeit ihrem jüngeren Bruder, der sich unter dem Einfluss ihres Vaters dem Nation-of-Islam/der Black- Muslim-Bewegung zugewandt hat und heute mit einer gläubigen Frau verheiratet ist. „August“ heisst vermutlich so, weil sie im August geboren wurde. Sie arbeitet als Anthropologin und forscht in zahlreichen Ländern über Trauer- und Beerdigungsriten. Zwanzig Jahre zurückblickend, erzählt sie, wie der Vater 1973 allein mit den Kindern aus Tennessee nach Brooklyn zog. Auggies Mutter brach unter dem Tod ihres Bruders im Vietnam-Krieg zusammen, sie verschwand aus dem Leben ihrer Kinder, die sich lange Zeit nicht mir ihrem Tod abfinden konnten. Über Auggies Kindheitserinnerungen schwebt tief melancholisch ein „Damals“ in der Bedeutung, damals wussten wir ja nicht, wie behütet wir waren und was kurz darauf auf uns zukommen würde. Als Auggie 15 ist, schickt ihr Vater sie zu Schwester Sonja, einer Therapeutin mit allerlei Diplomen an der Wand, die offenbar auch zur Black-Muslim-Gemeinde gehört. Als Auggie und ihr Bruder neu in Brooklyn sind, dürfen sie mitten im heißesten Sommer das Haus nicht verlassen, weil ihrem Vater die Straßen viel zu gefährlich sind. So beobachtet die Icherzählerin die drei Mädchen zunächst nur aus dem Fenster, möchte aber sofort zu dieser Mädchenclique gehören. Als die Kinder schrittweise das Haus verlassen dürfen, bildet Auggie mit Sylvia, Angela und Gigi eine eingeschworene Gemeinschaft. Früh schon wird den Mädels deutlich gemacht, dass ihre dunkle Haut nicht gut genug ist und dass überall Männer darauf warten, sie anzustarren und anzutatschen. Der Weg ihres Vaters und ihres Bruders deutet sich bereits an, als ihr Vater von einem Black Muslim angesprochen wird, dass seine kleine Tochter nicht mit kurzen Röcken und nackten Beinen herumlaufen dürfe. Die Armut ihrer Familie realisiert Auggie anfangs nicht, geht es ihnen doch immerhin so gut, dass der Vater mit ihnen am Wochenende nach Coney Island fahren und seinen Kindern ab und zu ein Eis kaufen kann. Dennoch dient ihre einfache Kleidung, aus der sie zu schnell herauswachsen, den vier Ladies als Erkennungsmerkmal, dass sie zusammengehören. Als die Mädels 12 sind, ahnen sie allmählich das Maß an Gewalt, das sie umgibt. Drogenhandel und Drogentote sind allgegenwärtig, eine von ihnen wird vergewaltigt, eine andere sucht bei ihrem ersten Freund Schutz im Tausch gegen ihre Zuneigung. Sie müssen lernen, dass die Stadt schärfere Klingen hat, als die Rasierklingen, die die Mädels in ihren Kniestrümpfen verstecken. Die entschiedene Forderung von Sylvias Vater schließlich, seine Töchter sollten nicht mit Gettomädels herumhängen, sondern gefälligst Ziele entwickeln und keine Träume, scheint in Sylvie den Ehrgeiz zu wecken, der sie zum Studium führt. „Meine Mutter war lange nicht tot“, diesen einleitenden Satz versteht man erst, nachdem Auggie mit Vater und Bruder nach Tennessee zurück gereist ist, um noch einmal das Land ihrer Kindheit zu sehen, das vom Staat enteignet wurde, weil die Familie Steuerschulden hatte. In bewegenden Bildern holt Jacqueline Woodson ihre eigene Kindheit hervor, um daraus eine fiktive Coming-of-Age-Geschichte aus den 70ern des vorigen Jahrhunderts zu zaubern. In ihrem sehr kurzen Roman vermittelt sie, was es damals hieß und was es heute heißt, eine „Woman of Colour“ zu sein. - Ein großartiges Buch, das lange nachwirkt.

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