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Buchdoktor

Posted on 4.2.2021

Hedwig Leydenfrost wird in diesem Jahr ihren 90. Geburtstag feiern. Ihr selbst wäre jedes Getue zu ihrer Person zuwider, doch als Urgestein der westdeutschen Apo will sie die Gelegenheit nutzen, Spenden für ein Flüchtlingsprojekt zu sammeln. Hedwig war früher Kinderärztin, hat ihr Leben dem politischen Kampf gewidmet und haderte bis ins Alter damit, dass sie ihren Kinderwunsch der Politik geopfert hatte. Als Rentnerin kehrt sie kurz nach der Wende mit der noch kleinen Adoptivtochter Fatima in ihr 200-Einwohner-Heimatdorf in Brandenburg zurück, um ihr Elternhaus zurückzukaufen. Während Leo im Dorf anerkannt ist, bleibt Hedwig für ihre Nachbarn der ewige Wessi. Fatima scheint sich so entwickelt zu haben, wie Hedwigs Bruder sich das für seine leiblichen Kinder gewünscht hätte. Ausgelöst durch die Vorbereitung des runden Geburtstags brechen alte Konflikte der Familie Leydenfrost hervor. Da Leo noch vor dem Nationalsozialismus zur Welt kam, erzählt Günter de Bruyn im Grunde die Geschichte von vier Generationen. Während Hedy längst nicht mehr aktiv genug wirkt, um so abgelegen zu leben, hält Leonhardt sich damit fit, regelmäßig zum Grab seiner Frau im Nachbarort zu marschieren und unterwegs über sein Leben zu grübeln. Das elterliche Gut wurde enteignet, seine Mutter starb unter ungeklärten Umständen während der russischen Besatzung Ostdeutschlands, sein Vater und Hedwig flüchteten kurz nach Kriegsende in den Westen. Ungeklärte Todesumstände wie diese dienten vielen Familien zur Beschönigung der Tatsache, dass man über die Verbrechen der Besatzungsarmee besser schwieg, um nicht in den weiter bestehenden ehemaligen Arbeitslagern der Nationalsozialisten zu landen. Leo selbst spürt noch immer die Kränkung, am Arbeitsplatz nicht mehr erwünscht zu sein, während zu seinem Ärger ehemalige Mitläufer des Regimes nach der Wende ihr Auskommen fanden. Seinen Sohn Rainer-Maria, den ehemaligen Major der Stasi, sieht Leo bis heute als Verräter. Tochter Wilhelmine zieht nach gescheiterter Beziehung mit ihrem jüngsten Kind zurück zu Leo, angeblich um ihn zu betreuen. Immerhin sorgt Wilhelmine dafür, dass der Schneepflug der Genossenschaft im Winter Leydenfrosts Auffahrt räumt. Wilhelmines Generation denkt wirtschaftlich: Flüchtlinge könnten als Saisonarbeiter bei der Spargelernte arbeiten und mit Sicherheit werden die Mittel für die Zuwanderer Arbeitsplätze für die Einheimischen schaffen. Bleibt Enkel Walter, auch er erfreut Leo mit seinem Interesse an Literatur. In leicht geschraubtem Stil, der für Leo wie maßgeschneidert wirkt, erzählt de Bruyn mit Focus auf dem betagten Leo die Geschichte eines Brandenburger Familienclans und der jeweiligen Kränkungen im Laufe der deutschen Geschichte. Drei Generationen, drei politische Systeme, dazwischen Menschen, die sich als Opfer irgendwelcher -ismen sehen. Jedes Mal wenn Leo seinen Gedanken nachhängt, wird sprachlich dicht und höchst ironisch ein Kapitel gesamtdeutscher Geschichte erzählt. Von der Prägung durch die russischen „Befreier“, über U-Boot-Christen zu Weihnachten, den Genderwahn, das Vergnügen aus einem brandenburgischen Dorf im Internet Bücher zu kaufen, bis zu Leos nostalgischen Erinnerungen an Dörfer, die noch einen Dorfanger mit Löschteich hatten. Wer in einer von der DDR-Grenze getrennten Familie aufgewachsen ist wie ich, dem empfehle ich de Bruyns ironischen Roman gern.

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