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Buchdoktor

Posted on 4.2.2021

Die alte Frau Rong aus Tongzhen war ihrer Zeit weit voraus. Um mehr über ihre beängstigenden Träume zu erfahren, schickt sie ihren Enkel Rong Zilai 1873 zum Studium ins Ausland. Der junge Herr Rong aus der Dynastie chinesischer Salzhändler studiert dort, was ihn interessiert, und nennt sich nach seiner Rückkehr nach China John Lilley. Sein Nachkomme Rong Xialai (Lilley Junior) wird Adoptivvater des Herrn Rong (Rong Jinzhen, später Rong Zhendi), um den sich das Buch dreht, sowie Begründer einer neuen bürgerlichen Klasse Chinas. Mit dem Mädchen Rong Youying, der Abakus-Lilley, taucht im Rong-Clan eine herausragende mathematische Begabung auf, die an Söhne zusammen mit einer ungewöhnlich dicken Kopfform vererbt wird. Einer dieser Teufelsschädel, Spitzname Kobold, wächst notgedrungen und wenig beachtet im Umfeld der Rongs auf. Ganz das Ebenbild seiner Großmutter Abakus-Lilley, zeigt Kobold deutliche Merkmale eines Autismus vom Typ Asperger, einer Behinderung, die Betroffene in ihren sozialen Kontakten stark einschränkt. Die chinesische Medizin wertet das Asperger-Syndrom als Entwicklungsstörung und kennt heute Mittel zu ihrer Behandlung. Fürsprecher und Förderer des mutterlosen Mathematik-Genies unterstützen seine Ausbildung und erkennen sogar seine sozialen Defizite. Wie eine Gesellschaft herausragende Individuen und Talente integriert oder ausgrenzt, ist ein spannendes Thema. Die Besonderheit des kleinen Kobold fasziniert vor allem deshalb, weil in asiatischen Kulturen der Einzelne sich unbedingt der Gemeinschaft unterzuordnen hat. Der begabte junge Mann kann sich aufgrund seiner Behinderung jedoch nur seinem persönlichen System selbst verordneter Zwänge unterordnen, nicht aber von Fremden verordneten Zwangssystemen. Wie es ist, in China Autist mit Inselbegabung zu sein, kann Mai Jias Lesern nur indirekt durch die Reaktionen Außenstehender vermittelt werden. Zhendi ist nicht in der Lage, seine Emotionen selbst mitzuteilen. Diese leicht zu verletzende und zu verunsichernde Persönlichkeit findet ihre Bestimmung nun ausgerechnet beim chinesischen Geheimdienst in der Dechiffrierung von Codes während des Kalten Krieges. Der Autor verbrachte selbst 17 Jahre im chinesischen Militärdienst und hat wie Zhendi einen besonderen Bezug zur Kryptografie. Im Psychogramm eines hochbegabten Einzelgängers und seiner Bezugspersonen sind die Motive der Förderer und Profiteure erst noch zu ergründen. Ein nüchtern beobachtender Chronist (der auch selbst in die Geschichte tritt) filtert aus Zhendis Leben allein das heraus, was dieser Beobachter für erzählenswert hält. Befragungen und Untersuchungen lassen den bereits 2002 veröffentlichten und in viele Sprachen übersetzten Roman wie einen Kriminalfall wirken. Zweifel entstehen, Bewertungen sind zu revidieren, die Geschichte muss förmlich auf den Kopf gestellt werden. Selbst Träume dienen als Schlüssel, eine Darstellungsform, die in Chinas Kriminalerzählungen Tradition hat. Ein Autor muss in eng gesetzten Grenzen lavieren, um in China verlegt werden zu können; er muss klüger sein als die Zensoren. Chinesische Romane verbergen sich deshalb oft hinter historischer Fassade. Auch die 70 Jahre zurückliegende Tätigkeit bei einem Geheimdienst sehe ich als historische Fassade an, die die Neugier westlicher Leser auf das heutige China nicht befriedigen kann. Lesern außerhalb Chinas und jüngeren chinesischen Lesern erschwert diese Art der Darstellung den Zugang. Mit der Wahl der Kryptografie als zentrales Thema seines Romans zeigt Mai Jia die im Umgang mit Zensurbehörden nötige List. Kryptografie sucht Schutz vor potentiellen Feinden in der Einzigartigkeit eines ganz besonderen Codes, zu dem nur wenige Eingeweihte Zugang haben. Einzigartigkeit ist zu Rongs Zeiten jedoch auch subversiv. Wer seine Erwartungen nicht zu stark an die Gattung Spionageroman bindet und zwischen den Zeilen lesen kann, wird von Mai Jia in der Charakterisierung seiner Figuren kritische Töne wahrnehmen können. Zhendis groteske Familiengeschichte erinnert in manchen Passagen an die Romane Yu Huas; „Das verhängnisvolle Talent des Herrn Rong“ verdankt „mehr der literarischen Tradition als dem wahren Leben“, so die Einschätzung von Perry Link in der New York Times Sunday Book Review vom 2.5.2014.

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