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Buchdoktor

Posted on 3.2.2021

Silvia Courbet hat einen ungewöhnlichen Weg zur Arbeit. Vom fiktiven Bauge in der Bretagne nimmt sie die Fähre nach England, um in London in ihrer Galerie zu arbeiten. In Silvias Heimatort Bauge brodeln die Gerüchte, seit eine chinesische Firma die Ausschreibung für den Bau eines Gezeitenkraftwerks gewinnen konnte. Mit der Ankunft von einigen hundert chinesischen Arbeitern beginnend, sind in Bauge bizarre Morde passiert; DNA-Spuren weisen auf einen Serienmörder hin. Trotz erkennbarer Gemeinsamkeiten zwischen den Opfern tappt die Polizei bisher im Dunkeln. Matthias Wittekindt entwickelt ein kompliziertes Szenario mit kleinstadttypischen Verbindungen und Verdächtigungen. Da gibt es missgünstige Nachbarn, Groll wegen uralter Geschichten, junge Erwachsene als Mitglieder eines Geheimbundes, zurückgewiesene Zuneigung und Existenzängste durch das Bauprojekt. Dem Ermittler-Team wird vom entgegengesetzten Ende Frankreichs Brigadier Ohayon zugeordnet, um die Führungsschwäche der gerade nicht dienstfähigen Vorgesetzten zu decken. Ungewöhnlich selbstbewusste Kolleginnen arbeiten in Bauge, stellt der Brigadier fest, der als Neuer im Team einen unverstellten Blick für die lokalen Empfindlichkeiten mitbringt. Der Kollege aus der Nähe der deutschen Grenze erklärt sich die zupackende Art seiner Kolleginnen damit, dass sie auf den Fischkuttern ihrer Väter mit anpacken mussten wie ihre Brüder. In Bauge bekommt er es mit der lokalen Kulturschickeria zu tun und muss sich in einen außergewöhnlich manipulativen Teenager hineinversetzen. Im Ausschlussverfahren arbeitet sich Ohayon Schicht für Schicht durch die Familien- und Beziehungskonflikte, bis er dem tatsächlichen Täter auf die Schliche kommt. Die Leser haben zwar Einblick in die Gedanken einer verdächtigen namenlosen Person, sind Ohayon aber nur geringfügig voraus in ihren Vermutungen. Der Brigadier lässt seine Gedanken schweifen und führt Wittekindts Leser abwechselnd auf falsche und erfolgversprechende Spuren. Eine dieser Spuren ist die nervige Art der Leute von Bauge, überfürsorglich unerwünschte Ratschläge zu geben: „Sind Sie sicher, dass sie heute warm genug angezogen sind?“ Die Atmosphäre einer bretonischen Kleinstadt vermittelt der Krimi weniger, das Setting muss schlicht in der Region angesiedelt sein, damit das Gezeitenkraftwerk gebaut werden kann und starke Frauenfiguren die Kutter ihrer Väter durchs Bild steuern können. Obwohl verhältnismäßig viel berichtet und weniger gezeigt wird (zwischen den Ereignissen vergehen einige Jahre, in denen sich die Figuren m. A. nach nicht merkbar verändern), hat mich Wittekindts personalintensiver Plot gut unterhalten.

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