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Buchdoktor

Posted on 3.2.2021

Pineozytom, Aneurysma, Meningeom - Henry Marshs Kapitelüberschriften sind Diagnosen der Neurochirurgie, die für betroffene Patienten den Tod oder ein Dasein als Pflegefall bedeuten können. Der renommierte britische Neurochirurg befasst sich in seinen Lebenserinnerungen selbstkritisch mit eigenen Fehlern, denen seines Berufsstandes und mit offensichtlichen Mängeln des britischen Gesundheitssystems. "Do no harm", die populäre Verkürzung des hippokratischen Eids im englischen Originaltitel, charakterisiert Marshs altersweisen Rückblick sehr viel besser als der deutsche Titel "Um Leben und Tod", hinter dem man die Huldigung eines Halbgott-in-Weiß-Mythos befürchten könnte. Nach einer Berufsfindung auf Umwegen hat Marsh sich stets als Handwerker verstanden in einem Beruf, in dem gesägt, gefräst und gesaugt wird. Operationen am menschlichen Gehirn glichen in Marshs Berufsleben häufig dem Entschärfen einer Bombe. Henry Marsh betont die Verbindung von Eleganz und Risiko bei seiner Arbeit, gesteht sich aber auch ein, wie oft der Ausgang einer Operation reine Glückssache war. Operieren sei eine obsessive Leidenschaft, so Marsh, seine Selbstgefälligkeit als prominenter Facharzt habe schließlich zum Scheitern seiner ersten Ehe geführt. Marsh ist Mitte 50, als er beginnt, sich rückblickend mit eigenen Fehlern und Fehlentscheidungen und dem Stand der Neurochirurgie in England auseinanderzusetzen. Seine Bilanz eines Berufslebens ist zugleich Abrechnung mit einem ineffektiven, bürokratischen, für schwerkranke Patienten unzumutbaren Gesundheitssystem. Als Leser des Buchs kann man nur hoffen, niemals in die Situation zu kommen, in einem Sechs-Bett-Zimmer die Diagnose einer tödlich verlaufenden Krankheit zu erhalten oder den Operateur mit sinnloser Bürokratie kämpfen zu sehen, anstatt sich auf die bevorstehende Operation vorzubereiten. Marsh musste erst selbst zum Patienten werden und mit der Tumorerkrankungen seines kleinen Sohnes konfrontiert werden, um die "andere Seite" wahrnehmen zu können. Wichtiger Teil in Marshs Lehr- und Berufstätigkeit war die Zusammenarbeit mit ukrainischen Kollegen, von den lokalen Behörden offiziell nicht genehmigt und unter unvorstellbaren Arbeitsbedingungen. Ich würde mir wünschen, dass Gesundheitspolitik nicht von Bürokraten, sondern von Praktikern wie Marsh gestaltet würde. Neben der bemerkenswert selbstkritischen Sicht des Autors finde ich die Übersetzung sehr lobenswert. Katrin Behringer hat nicht nur den Fachtext eines Mediziners ins Deutsche übertragen, sondern zugleich deutschen Lesern das britische Gesundheitssystem verständlich gemacht. "Um Leben und Tod'" ist die unbedingt lesenswerte, altersweise Lebensbilanz eines Neurochirurgen.

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