Profilbild von Buchdoktor

Buchdoktor

Posted on 3.2.2021

Fünf Icherzähler berichten aus mehr als 20 Jahren Distanz rückblickend, wie es in den 50ern zum Selbstmord des Museumsleiters Horn in Bad Guldenberg/Ostdeutschland kam, der des Revisionismus verdächtigt war und deshalb in den kleinen Kurort versetzt wurde. Es sind drei Erwachsene, die den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg bewusst miterlebt haben müssen, (der Arzt Dr. Spodeck, Gertrude Fischlinger, allein erziehende Mutter von Paul, Ladeninhaberin und Vermieterin von Horn, der neue Bürgermeister Kruschkatz), ein Kind und eine geistig behinderte junge Frau. Thomas, der Sohn des Apothekers, ist im Sommer 1957 mit 11 Jahren am Beginn der Pubertät und leidet darunter, als Kind einer stadtbekannten Familie im Mittelpunkt zu stehen. Marlene Gohl hat trotz einer geistigen Behinderung die Tötung Behinderter während der NS-Zeit überlebt. Die damals noch immer schlechte Versorgung mit Konsumgütern in der DDR zeigt sich daran, dass bestimmte Artikel nur gegen Lebensmittelmarken abgegeben werden. Durch eine Großfamilie von „Zigeunern“, die im Ort lagert, eskalieren alte Konflikte zwischen Einwohnern und der politischen Führung, die aus gewählten Mitgliedern und Berufsstadträten besteht. Die sehr unterschiedlichen Erzähler berichten nüchtern, fast im Protokollstil. Als Leser muss man sich die Ereignisse und die Verbindungen zwischen den Figuren nach und nach zusammenreimen. Heins Figuren äußern sich gegenüber ihren Mitbürgern häufig herablassend und voller Vorurteile. Mehr kann man vermutlich nicht erwarten, wenn alte Köpfe ein neues System organisieren müssen. Nach 12 Jahren in einem Staat, der sich für unbelastet vom Nationalsozialismus erklärte, befremdet, wie ungebrochen sich – hier in der Fiktion - Denunziation halten konnte im Kampf um Posten und Vorteile. Aus der Sicht eines Wessis kenne ich die geschilderten Verhältnisse von Familienbesuchen. Auf mich wirkt der Roman wie ein Theaterstück, konzentriert auf wenige Szenen und Figuren, in dem mit der Zigeunergruppe ein anarchistisches Element auftritt, das den bürokratisch-totalitären Staat provoziert. Das Zigeunermotiv konkurrierte in meinem Kopf mit den Bildern meiner Kindheit von reisenden Scherenschleifern, Altmetall- und Teppichhändlern, die einfach ihren Berufen nachgingen. Ich konnte im Roman nur schwer nachvollziehen, wo das Problem mit den "Zigeunern" sein soll, war mir jedoch bewusst, dass der beschriebene Staat 4 Jahre später Reisende mit Mauern und Schussanlagen abwehrte. Von Rückblicken in der Ichperspektive erwarte ich sonst eine Selbstkritik der Figuren, die ich hier nicht gefunden habe. Die charakteristischen Probleme der 50er in der DDR (Abbau der Produktionsanlagen durch die Besatzungsarmee, Flucht der Fachkräfte nach Westdeutschland und sich daraufhin weiter verschlechternde Versorgungslage) bleiben auf Heins Theaterbühne nur angedeutet. Arzt, Apotheker und Politiker sind nicht gerade charakteristische Berufe; aus der Arbeitswelt des Durchschnittsbürgers erfährt man als Leser kaum etwas. Gerade Gertrude steht doch mit ihrem Laden im Fadenkreuz von Enteignung und Zwangskollektivierung Selbstständiger und Schwächen der Planwirtschaft. Geschildert wird eine reine Männerwelt, in der Frauen als Ehefrauen und Assistentinnen kurz durchs Bild huschen. Da in den 50ern eine ganze Generation von Männern im Krieg gefallen war, noch vermisst wurde oder versehrt zurückkehrte, finde ich die Darstellung von Frauen in „Horns Ende“ nicht gerade treffend für die Zeit. Christine, Spodecks Arzthelferin, verkörpert aus meiner Sicht ein Abhängigkeits-Verhältnis von Herr und Knecht, das das DDR-System mit der Vertreibung und Enteignung ehemaliger Gutsherren eigentlich überwinden wollte. Das Rätseln, was zu Horns Tod führte, hat mir durchaus Spaß gemacht. Um von „Horns Ende“ gefesselt zu sein, hätte Thomas für meinen Geschmack seine kindliche Perspektive von damals allerdings aus der Sicht des Erwachsenen reflektieren müssen. Wer beim Erscheinen des Romans 1985 die DDR nicht aus eigener Anschauung kannte, wird bereits damals Verständnisprobleme gehabt haben; 30 Jahre später rätsele ich umso mehr, was Hein mit dem Roman vermitteln wollte. (26.6.2018)

zurück nach oben