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mrsrabe

Posted on 3.2.2021

„Im Juni 1885 kamen drei Franzosen in London an.“ Einer dieser drei Franzosen war Dr. Samuel Pozzi, die anderen beiden der Prinz Edmond de Polignac und Graf Robert de Montesquiou. Das 19. Jahrhundert näher sich seinem Ende. Für die, die es sich leisten konnten, war es die Belle Époque, eine Zeit der schönen Künste, der Reisen, der Ausschweifungen. Der britische Schriftsteller Julian Barnes ließ sich von dem markanten Gemälde „Dr. Pozzi at home“ des zu der Zeit gefragtesten Portraitmalers John Singer Sargent zu dieser absolut ungewöhnlichen Homestory über Samuel Pozzi inspirieren. Pozzi ist der „Mann im roten Rock“. Wer war nun dieser Samuel Pozzi? Arzt, Politiker, Liebhaber schöner Frauen. Trotz seiner bürgerlichen Herkunft bewegte er sich in den Salons der Adeligen wie ein Fisch im Wasser. „Pozzi war überall!“ Doch Barnes hat hier weit mehr als eine Biografie verfasst. Das Buch ist ein Panoptikum der Epoche, das Sittenbild einer dekadenten Gesellschaft. Barnes spart nicht mit pikanten Details, Klatsch und Tratsch. Er vermittelt sein ungeheures Wissen über die damalige Zeit und erstreckt seine Schilderungen auf die Kunst in Wort und Bild, aber auch Justiz und Politik, beleuchtet das gesellschaftliche und damit einhergehende politische Ränkespiel zwischen Frankreich und England. Wobei Barnes sehr pointiert eine Brücke zu der aktuellen politischen Entwicklung in seiner britischen Heimat schlägt und seinen Unmut darüber kaum verhehlen mag. „Wir könnten auch mit einer Kugel beginnen und mit der Waffe, aus der sie abgeschossen wurde. Das funktioniert eigentlich immer: Eine eherne Theaterregel besagt, wenn man im ersten Akt eine Waffe sieht, wird sie im letzten garantiert abgefeuert. Aber welche Waffe und welche Kugel? Es gab so viele zu jener Zeit.“ Barnes wird etliche Kugeln zum Rollen bringen. Eine Karambolage vieler Ereignisse, elegant über die Bande gespielt erledigt er die Liebschaft Pozzis zu Sarah Bernhardt, den Prozess gegen Oscar Wilde, streift hier an den Brüdern de Goncourt an und dort an der Dreyfus Affäre. Und noch an so viel mehr. Diese Lektüre ist ungemein fordernd, bereichernd und lehrreich. Barnes geschliffene Sprache, aber auch die elegante Aufmachung des Buches mit unzähligen (historischen) Abbildungen macht aus diesem Buch ein Schmuckstück. Letztlich ist das Buch auch Barnes Auseinandersetzung mit dem eigenen Schreiben, insbesondere dem Schreiben einer Biografie, über gute und schlechte Bücher und darüber, was wir alles nicht wissen.

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