dorli
In ihrem Roman „Long Bright River“ nimmt Liz Moore den Leser mit nach Kensington, einem Stadtteil der US-Metropole Philadelphia. Kensington ist ein Problembezirk. Die Kriminalitätsrate ist hoch, Drogenhandel und Prostitution sind hier Alltag und prägen das Stadtbild. Hintergrund für diesen genauso bewegenden wie spannenden Roman ist die Opioidkrise in den USA – eine gesellschaftliche Tragödie, die mittlerweile ein solches Ausmaß angenommen hat, dass sie als medizinischer Notstand gilt. Die 33-jährige Streifenpolizistin Mickey ist in Kensington aufgewachsen. Gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Kacey wurde sie von ihrer Großmutter aufgezogen, einer verbitterten Frau, die nie über den Drogentod ihrer Tochter hinweggekommen ist und deshalb weder die Kraft noch den Willen hatte, ihren Enkelinnen die Liebe und Aufmerksamkeit zu schenken, die sie gebraucht hätten. Während die stille, fast schüchterne Mickey die Kurve kriegt, gerät die wilde, unternehmungslustige Kacey auf die schiefe Bahn. Sie nimmt Drogen, dealt und prostituiert sich. Als Kinder und Jugendliche haben die Schwestern sich gegenseitig beschützt. Obwohl der Lebensweg der beiden so gänzlich unterschiedliche Richtungen eingeschlagen hat und sie seit Jahren nicht mehr miteinander reden, hat Mickey auch heute noch immer ein Auge auf Kacey, wenn sie auf Streife durch den Bezirk fährt. Als ein Serienmörder, der es auf Prostituierte abgesehen hat, in den Straßen Kensingtons sein Unwesen treibt und Kacey zeitgleich spurlos verschwindet, macht Mickey sich auf eine nicht ungefährliche Suche nach ihrer Schwester… Liz Moore gewährt dem Leser durch die Augen der Streifenpolizistin und alleinerziehenden Mutter Mickey Einblick in eine Welt, die mit den verheerenden Auswirkungen von Drogenhandel und -konsum zu kämpfen hat und die Probleme nicht in den Griff kriegt. Die Autorin schildert dabei nicht nur die Trostlosigkeit des Viertels und die Perspektivlosigkeit und Resignation der Bevölkerung, sie vermittelt auch, woher die Probleme kommen und warum es für den Einzelnen so schwer ist, die ständige Abwärtsspirale zu stoppen und dem Elend zu entkommen. Der Roman ist aber nicht nur ein mitreißendes Gesellschaftsporträt, sondern wird durch die verzweifelte Suche nach Kacey, den aufschlussreichen Rückblenden in die Kindheit und Jugend der Schwestern sowie Mickeys Spagat zwischen Berufsleben und dem Wunsch, ihrem kleinen Sohn ein liebevolles Zuhause zu bieten, gleichzeitig zu einer dramatischen Familiengeschichte. Obwohl es sich bei diesem Roman nicht um einen Krimi handelt und die Ermittlungen in den Mordfällen nur eine untergeordnete Rolle spielen, ist für reichlich Spannung gesorgt, weil es Liz Moore gelingt, beim Leser den Eindruck zu erwecken, dass der Täter aus Mickeys Umfeld stammt und sie sich deshalb in ständiger Gefahr befindet. „Long Bright River“ hat mir sehr gut gefallen – ein fesselnder, sehr tiefgründiger Roman, der mich auch nach dem Lesen noch lange beschäftigt hat.