Buchdoktor
Als Ismail Kadare 12 Jahre alt ist, wendet sich Albanien von Jugoslawien ab und der Sowjetunion zu. Zuvor war das Land seit dem Ersten Weltkrieg annektiert, besetzt und von einem Partisanenkrieg gezeichnet. Für Schüler bedeutet der Systemwandel, dass mit Latein und Französisch ganze Sprachen aus ihrem Lehrplan verschwinden und Russisch mit einer neuen Schrift kommt. Die „Oheims“, die schulpflichtigen jüngeren Brüder von Kadares Mutter, schalten flink um auf Russisch und Ungarisch, denn sie wollen sich um ein Stipendium im Ausland bewerben. Die jüngeren Schüler sehen sich mit der Forderung konfrontiert, Lehrer und Eltern zu bespitzeln und zu denunzieren. In Nebensätzen deuten sich weitere Konflikte an; denn ein Großonkel aus einem anderen Landesteil ist christlicher Priester. Aus der Sicht eines Zwölfjährigen wird hier begreifbar, warum die Auseinandersetzung mit totalitären Regimen zu Kadares Lebensthema wurde. Er vermittelt in diesen biografischen Texten ergänzend zu seinen Romanen eine erste Vorstellung des historischen Hintergrunds der 50er in Albanien. Kadares Familiengeschichte kann zudem eine Ahnung davon vermitteln, warum Albanien und albanische Volksgruppen bis heute in Europa kulturell schwer zu verorten sind und welche Rolle Sprache oder Religion dabei spielen. Der Schüler Kadare erlebt seine Familie als zwei miteinander verfeindete Familienclans in wehrhaften, steinernen Häusern, dazu politische Verhältnisse, die Familien zusätzlich spalten. In diesem Kalten Krieg kann nur Ismail unbeschwert zwischen den Haushalten pendeln. Der Großpapa (Dobi) mütterlicherseits ist kurz zuvor enteignet worden und muss sich darauf einstellen, im Dorf auf Reste bourgeoisen Verhaltens des ehemaligen Grundherrn beobachtet zu werden. Dass er sich keine neue Sprache aneignet und unverdrossen weiter Türkisch liest, lässt Schlimmes für ihn befürchten. Kadares Vater, der nur einfacher Gerichtsdiener ist, wurde die 17-jährige Tochter dieses Patriarchen „ins Haus gegeben“ – in der Tradition, dass eine Frau das Haus ihres Mannes erst nach ihrem Tod wieder verlassen wird. Die soliden steinernen Kästen sichern den Besitz von Patriarchen, zu dem Frau, Kinder und Gesinde gehören, und dienen natürlich dem Machterhalt. Mit der Wende zum Kommunismus sowjetischer Art wird sich bei den Dobis einiges ändern müssen. Ismail und sein Freund Ilir wagen indes die ersten Schritte als Autoren. Sie wollen gemeinsam einen Roman schreiben, ohne zu wissen, woher man einen Stoff nimmt, den nicht schon ein anderer Autor verarbeitet hat, und wem ein gemeinsames Manuskript am Ende gehören wird. Verständlich, dass die Jungen in der Schule anecken, die sie unnötig vom Lesen und Schreiben abhält, wie sie finden. Außer drei unterschiedlich langen biografischen Texten würdigt ein weiterer Text die Mutter Kadares, Hatixhe Dobi. Ismail Kadare musste vermutlich erst selbst mit dem Plan seiner Mutter konfrontiert werden, ihren aufmüpfigen Sohn unter die Haube zu bringen, um zu begreifen, warum sie lebenslang damit haderte, vor ihrer Heirat nicht erst erwachsen werden zu dürfen. Mich hat der erste Teil von nur 55 Seiten am stärksten beeindruckt, der zeigt, welches Kind der vielfach preisgekrönte Autor war und wie sein Schreiben in jungem Alter begann. Neben starken Bildern und Symbolen des Autors vermittelt auch die Übersetzung ins Deutsche (mit Wörtern wie Oheim oder Muhme) das Bild einer patriarchalischen Gesellschaft, die sich nur langsam aus ihrer Versteinerung löst. Wer sich für biografische Texte von Autoren interessiert, sollte hier zugreifen.