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Buchdoktor

Posted on 31.1.2021

Der Bug entspringt in der Ukraine, fließt an der Grenze zu Weißrussland entlang, umkurvt Warschau, um in den Narew zu münden, der wiederum in die Weichsel fließt. In früheren Zeiten war der Bug Grenzfluss zwischen dem russischen Kaiserreich und dem Königreich Polen. Das Flusssystem verbindet die Ostsee und das Schwarze Meer und bildet u. a. die Ostgrenze der EU. Die Vernichtungslager Sobibór und Treblinka lagen in dieser geschichtsträchtigen Gegend; die Flussauen bieten Lebensräume für zahlreiche Tiere. Der Wanderer, der hier unterwegs ist, unterscheidet sich von den üblichen Pilgern durch seinen aufmerksamen Blick für die Natur und weil er sich als Person völlig zurücknimmt. Michal Ksiazek ist Ornithologe und Lyriker und er engagiert sich für den Urwald von Bialowieza, der durch menschliche Begehrlichkeiten in Gefahr ist. Dort wo der Autor unterwegs ist, spricht er als Pole fremd, wirkt fremd und fühlt sich, als hätte er eine dunklere Hautfarbe. Sein Gefühl, „im Osten“, also östlich der polnisch-ukrainischen Grenze zu sein, ist urplötzlich da, vermischt sich mit dem Eindruck, dass Zimmerpreise an Grenzen stets höher sind als anderswo. Warum es wohl „im Osten“ einfacher ist, eine Unterkunft für eine Nacht zu finden als in der EU? An einer Grenze wurde schon immer geschmuggelt, auch am Bug werden Schmuggler-Anekdoten stolz weiter erzählt. Auch berichtet man, es gäbe hier riesige Uhus mit einer Spannweite lang wie ein Mann. Ksiazeks Blick für die Natur ist geschult, er sieht nicht einfach Mäuse, er kann unterschiedliche Spezies bestimmen und kennt jedes Gras, das im Überschwemmungsgebiet des Flusses wächst. Die Geschichte von Krieg und Vertreibung wird vom Pflanzenwuchs auf Ruinengrundstücken erzählt (Huflattich liebt Brandstätten), von Massengräbern und von Dorf-Friedhöfen am Weg. Grabsteine tragen jüdische, deutsche und russische Namen, keine polnischen. „Die Anderen“ waren früher Ruthenen und Ukrainer, deren Gräber nachfolgende Bewohner zerstörten. Immer wieder trifft Ksiazek auf gleichgültiges Schulterzucken. Seine Gesprächspartner bestreiten, dass es hier je orthodoxe Christen gegeben hätte, weichen Fragen nach der Geschichte ihres Wohnortes aus. „Das waren die Deutschen, die Russen, die Schweden …“ Sie wären ja in dieser Generation erst hergezogen. Dass es an mancher Stelle vorher keine Straße, keinen Strom und kein Klo gab, ist heute schwer vorstellbar. Die Frage, warum an einer Stelle in einem Laubwald Kirschbäume wachsen, wird vermutlich unbeantwortet bleiben. Schließlich erreicht der Wanderer die Bahngleise, die unter Besetzung der Nationalsozialisten nach Sobibór führten. Die Bewohner des ukrainisch-jüdischen Dorfes Sobibór wurden nach dem Zweiten Weltkrieg in die Sowjetunion umgesiedelt. Dass damals Dörfer durchschnitten wurden und Felder plötzlich in einem anderen Land lagen, ist uns von der deutsch-deutschen Grenze vertraut. Ksiazek befürchtet allerdings, dass Europa von diesen Dingen keine Ahnung hat. Städte mit drei und mehr Religionsgemeinschaften waren hier nicht ungewöhnlich, der Wanderer trifft jedoch immer wieder auf Zeichen der Verdrängung von Juden und Orthodoxen, und wenn es nur in der dominierenden Form der Grabkreuze ist. Michal Ksiazek erarbeitet sich sein Wanderrevier über die Sprache, über den gegenseitigen Einfluss der Kulturen. Ob jemand von hier oder von dort ist und wo die Menschen geblieben sind, die hier früher lebten, ist noch immer ein heikles Thema. Warum Menschen im Tod nicht alle gleich sind, konnte ihm niemand beantworten. So geht es am Ende des Weges für ihn zurück auf die Suche nach dem Weißrückenspecht, die Arbeit, für die er lebt und bezahlt wird. Ksiazek schreibt prägnante, kurze Absätze und hält sich als Person angenehm hinter der der Geschichte der Landschaft am Bug zurück. Gewünscht hätte ich mir eine Landkarte, auch wenn Europas östlicher Urwald sich bisher der Kartierung zu entziehen scheint.

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