Buchdoktor
Deutsche unter 25 Jahren haben immer nur im wiedervereinigten Deutschland gelebt und wissen von der deutschen Teilung aus Erzählungen – oder gar nicht. Den Kriegskindern (Kindern der Teilnehmer und Opfer des Zweiten Weltkriegs) als indirekt Betroffene konnte eine Reihe von Sachbüchern und Biografien Gehör verschaffen. Vergleichbar damit legt Ricarda Junge 25 Jahre nach der Wiedervereinigung einen Roman über Flüchtlingskinder vor, deren Eltern aus der damaligen DDR in den Westen flüchteten. Anna ist in Wiesbaden aufgewachsen, ihre Mutter arbeitet als Ärztin im Gesundheitsamt, der Vater ist protestantischer Pfarrer. Das Familienleben wird davon geprägt, dass der Vater jederzeit als Seelsorger abrufbar ist, im Flur der Familie stehen zwei fertig gepackte kleine Koffer, einer für Taufen und einer für Sterbefälle. Absolut zuverlässig hastet Annas Mutter in jeder Mittagspause nach Hause, um für ihre schulpflichtigen Kinder zu kochen. Annas Mutter verhielt sich als Erwachsene noch immer, als sei sie auf der Flucht. Sie verabscheute das Sammeln von Dingen, die für sie Ballast waren. Verständlich, dass chaotische Kinderzimmer und Überraschungseier-Sammlungen ihr den letzten Nerv töten konnten. „Ich wünschte, in der Familie könnte jeder seine Grenzen so klar abstecken wie ich,“ (Seite 156) definiert Annas Mutter ihre Position. Anna, die im vierten Schuljahr noch immer nicht Lesen gelernt hat, stößt bei Mutter und Bruder auf wenig Verständnis für ihre Fantasiegeschichten, die sie zu erzählen versucht. Verstanden fühlt Anna sich allein vom Großvater (väterlicherseits), der selbst einmal Autor werden wollte und sich seinen Traum versagte, um den Lebensunterhalt für seine Familie zu verdienen. Die erwachsene Anna arbeitet mit fast 30 Jahren nach einem Literaturstudium als Werbetexterin eines Online-Versands in Berlin. Die Autorin und ihre Hauptfigur gehören einer Generation an. Annas Berufung ist es jedoch, einen Roman über das Schicksal ihrer Mutter zu verfassen, die als Kind mit ihren Eltern aus der DDR flüchtete. Kurz nach der Ankunft im Westen verschwand Annas Großvater mütterlicherseits, über sein Schicksal wurde in der Familie nie wieder gesprochen. Anna hat sich das tiefe Misstrauen ihrer Mutter immer mit deren Kindheit in der DDR erklärt und mit dem Schock, unvorbereitet von einem Tag auf den anderen ihr gesamtes Leben hinter sich zurücklassen zu müssen. Der Mutter und ihrem Bruder mussten damals die Fluchtpläne verheimlicht werden. Wäre der Plan aufgeflogen, hätten die Eltern lange Haftstrafen als Republikflüchtlinge vor sich gehabt, die Kinder wären zur Adoption frei gegeben worden. Das Thema Flucht aus der DDR bleibt in Annas Familie verschwiegen und verdrängt, man konzentriert sich auf den Aufbau einer neuen Existenz im Westen. Erst mithilfe des Nachlasses ihres Onkels Georg (des Bruders der Mutter) können Anna und ihr Bruder das Schicksal des verschwundenen Großvaters klären. „Die letzen warmen Tage“ als Roman zur deutschen Teilung und Wiedervereinigung ist ein Buch über das Schweigen. Geschwiegen wird aus Angst um das eigene Leben, aus Scham, aus Erschöpfung und vielleicht auch, weil die Kinder nach Meinung ihrer Eltern nicht genug Anteil an deren Kindheitserlebnissen nehmen. In Annas Leben setzt sich dieses Schweigen fort im Erleiden selbstzerstörerischer Beziehungen in der rechtsradikalen Szene und der Affäre mit einem sehr viel älteren Mann. Es ist auch der Roman der Generation Praktikum, die sich mit Praktikantenjobs und Stellen als Scheinselbstständige durchschlägt, die eine Zukunftsplanung verhindern. Wem die Gesellschaft keine verantwortungsvolle Aufgabe überträgt, dessen mangelnde Zielstrebigkeit sollte sie besser nicht kritisieren. Anna neigte schon immer zu simplen Schuldzuweisungen. Von den Eigenheiten ihrer strukturiert planenden Mutter, über ihre Lehrerin, die aus Annas Sicht die Schuld an ihren Schulproblemen trug, bis zur Freundin ihres Bruders Eike, von der sie sich vom ihr zustehenden Platz in dessen Leben entthront fühlt – Anna scheint auf die Rolle der Anklägerin abonniert. Da Anna mit fast 30 Jahren weder ihr Verhältnis zu ihrer Mutter reflektiert, noch sonst Verantwortung für ihr Handeln übernommen hat, halte ich den sonst fesselnden Roman zur Wirkung der deutschen Teilung auf eine einzelne Familie für wichtig, auf Annas Ichperspektive reduziert jedoch nicht für komplett gelungen.