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Buchdoktor

Posted on 31.1.2021

Als Alexander Wendt sich endlich selbst stationär als Patient in die Psychiatrie einweist, hat er bereits eine Vorgeschichte depressiver Episoden hinter sich. Die Konfrontation mit Mitpatienten auf seiner Station bedeutet das endgültige Eingeständnis seiner Krankheit. Wendts Diagnose lautet: bipolar-affektive Störung; der Patient muss stationär auf Medikamente eingestellt werden. Um nicht erkrankten Lesern das Unvorstellbare begreifbar zu machen, muss Wendt zu Metaphern greifen. Die Krankheit, "das Miststück und seine dumme kleine Schwester Paranoia" umschlingen ihren Wirt wie eine Schmarotzerpflanze. Würde man die Pflanze von ihrem Baum abreißen, könnte ein Baum ohne Umklammerung schlimmstenfalls nicht mehr frei stehen. Seine Medikamente empfindet der Patient schon bald als Gully, in dem seine intellektuellen Fähigkeiten verschwinden. Er zeigt sich deshalb seinen Therapeuten als „eingebildeter Gesunder“, der dringend wieder schreiben will und der die Einnahme von Psychopharmaka für unvereinbar mit seiner Autorentätigkeit hält. Genau diese Einstellung sei ein Indiz für die bei ihm diagnostizierte Störung, wird ihm bedeutet. Recherchieren und Schreiben sind Wendts persönlicher Weg, um sich mit seiner Krankheit auseinanderzusetzen. Innerhalb seines Erfahrungsberichts kann man als Leser diesem Bericht bei seiner Entstehung zusehen. Während Wendt sich mit der „Melancholie“ in Kunst und Literatur auseinandersetzt, dringt er von den Randbereichen allgemeinen Wissens über Depressionen vor zum Kern der eigenen Erkrankung. Er zeigt sich sehr belesen, kennt u. a. Werke von Oliver Sacks, Thomas Mann und Wolfgang Herrndorf, setzt sich mit Dürers Darstellung der Melancholie auseinander und mit Biografien berühmter Depressiver wie Churchill. Er sinniert über den Zusammenhang zwischen politischen Systemen und psychischen Erkrankungen, recherchiert, was Depressive in Zeiten vor der Entwicklung von Medikamenten zur Stabilisierung des Serotonin-Stoffwechsels zu erwarten hatten. Nach seiner Entlassung aus der Klinik kommt eine Recherche in Vietnam hinzu, wie andere Kulturen oder Religionen mit Depressionen umgehen. „Du Miststück. Meine Depression und ich“ ist weder Ratgeber noch reiner Erfahrungsbericht, sondern das eloquente Buch eines Autors, der seine Krankheit mit den handwerklichen Mitteln seiner Profession bewältigt. Wendts Eloquenz hat seine Depression für mich sehr bizarr wirken lassen, wenn er z. B. scharfzüngig die Situation inverser Therapiegespräche entlarvt, in denen Therapeuten ihrem Patienten Privatangelegenheiten vorklagen und der sich verpflichtet fühlt, geduldig und verständnisvoll zuzuhören. Schließlich könnte jede eigene Äußerung in der Patientenakte landen. Vielleicht muss man selbst Kulturschaffender sein und ähnlich gestrickt wie der Autor, um aus Alexander Wendts persönlicher Kombination aus Recherche und eigener Betroffenheit Nutzen zu ziehen. Angehörige und Betroffene könnten sich durch Wendts Buch damit versöhnen, dass bei schweren Depressionen an stationärer Behandlung häufig kein Weg vorbei führt. Die recherchierte medizinhistorische Ebene stellt durch ihren Gehalt an Informationen einige Anforderungen an Leser des Buches. Ob Erfahrungsberichte anderen Betroffenen helfen können, darüber kann man streiten. Als nicht betroffene Person hat die Lektüre meine Wahrnehmung für die konkrete Vorgeschichte geschärft und für die erbliche Veranlagung zu Depressionen.

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