Buchdoktor
So unbeschwert wie in der oberen Hälfte des Buchcovers wird Irmina nicht wieder unterwegs sein: Howard radelt mit ihr durch Oxford, um ihr stolz seine Universitätsstadt zu zeigen. Im Jahr 1934 lebt Irmina von Behdinger als Austauschschülerin in London und besucht dort eine Wirtschaftsschule, um Fremdsprachen-Sekretärin zu werden. Howard stammt von der Insel Barbados und hat sich unter erheblichen Anstrengungen ein Stipendium für ein Jurastudium in England erkämpft. Beide sind Außenseiter in England, Irmina als disziplinierte Deutsche (das „Nazifräulein“) und Howard aufgrund seiner Hautfarbe. Die keimende Beziehung zwischen beiden findet ein jähes Ende, als Irmina aufgrund der politischen Verhältnisse plötzlich ohne Unterkunft und ohne Geld aus Deutschland in England festsitzt – und sich zur Rückkehr nach Deutschland entscheidet. Mit dem Wissen der Gegenwart, dass sie sich besser irgendwie in England durchgeschlagen hätte als zurückzukehren, wirkt Irminas überstürzte Rückkehr auf Leser der Graphic Novel enttäuschend. Aus Irminas Sicht stellen sich die Dinge ganz anders dar. Sie ist zu der Zeit noch nicht volljährig und hatte als Frau bürgerlicher Herkunft vermutlich noch nie zuvor eine Entscheidung dieser Tragweite allein zu treffen. Zurück in Deutschland kann Irmina zwar als Fremdsprachensekretärin im Kriegsministerium ihren Lebensunterhalt verdienen, mit ihrem Gehalt jedoch vermutlich keine großen Sprünge machen. Anders als im Klappentext angekündigt sehe ich Irmina nicht als ehrgeizig, sondern höchstens als pflichtbewusst und fleißig, als durchschnittliche Frau ihrer Generation. Bereits in England war Irmina hauptsächlich mit dem eigenen Überleben beschäftigt und hat sich erst durch den Einfluss ihrer Gönnerin, bei der sie kostenfrei lebt, gezwungenermaßen mit den Tagesereignissen beschäftigt. Vier Jahre später sieht sich Irmina mit dem erstarkenden Nationalsozialismus und der Judenverfolgung konfrontiert und geht schließlich eine Vernunftehe mit dem SS-Offizier Gregor Meinrich ein. Der Briefkontakt zu Howard reißt ab. Nach Jahrzehnten, kurz vor ihrer Pensionierung erhält Irmina überraschend einen Brief aus Barbados. Barbara Yelin erzählt, angeregt durch den Nachlass ihrer Großmutter, als Graphic Novel die fiktive Geschichte einer jungen Deutschen während des Nationalsozialismus. Irmina träumt zwar davon, aus der vorgezeichneten Rolle als Ehefrau und Mutter auszubrechen, schreckt aber im entscheidenden Moment stets vor der Entscheidung für einen alternativen Lebensweg zurück. Zwischen Irminas Selbsteinschätzung und der Wertung anderer, die Irminas Ausbildung in London und ihr Eintreten für den diskriminierten Howard mutig finden, klafft nach meiner Ansicht ein gewaltiger Graben. Die Verfolgung Andersdenkender und Andersgläubiger findet für Irmina außerhalb ihrer pesönlichen Lebenswelt statt, obwohl sie durch die Erlebnisse mit dem farbigen Howard dafür sensibilisiert sein sollte. Eine Verbindung zwischen Gregors Dienstgrad und den nicht zu übersehenden Ereignissen in ihrer Straße stellt Irmina nicht her. In dieser Geschichte ist nicht zu übersehen, dass die Juden-Verfolgung keine Maßnahme einer Minderheit war, sondern von der Bevölkerung geduldet wurde und deren Bereicherung an jüdischem Besitz diente. Irmina steht als Figur stellvertretend für Mitläufer, die meinen, an bestehenden Verhältnissen nichts ändern zu können, und kann sicher Verständnis für diese ganz normalen Deutschen zur Zeit des Nationalsozialismus wecken. Mit dominierenden Schwarz- und Grautönen und wenigen roten Tupfen durch die Flaggen der Nationalsozialisten wirkt Irminas Leben so düster wie ein Novembertag in London. Besonders beeindruckend wirken auf mich die vielen Alltagsdetails und doppelseitige Straßenszenen, in die Busse und Pferdekutschen Dynamik bringen. Yelins Graphic Novel erzeugt sehr direkte Emotionen durch den Kontrast zwischen dem, was ich mir für Irmina gewünscht hätte und was ihr Leben letztendlich für sie bereithielt.