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letterrausch

Posted on 30.1.2021

Für mich gibt es zwei Möglichkeiten, wie ein Buch zu einem guten Buch werden kann: Entweder hat der Autor eine unglaublich innovative und nie da gewesene Idee für eine Handlung. Dann kann auch der Stil althergebracht und wenig besonders sein. Oder der Autor brilliert mit fantastischer Sprachkraft, dann kann das auch einen mittelmäßigen Plot noch retten. Wenn ein Autor beide Möglichkeiten ausschöpft – ein ungewöhnlicher Plot, der sprachlich weit über dem Durchschnitt erzählt wird –, dann habe ich es mit einem neuen Lieblingsbuch zu tun. Etwas, das mich wirklich packt und begeistert. Wenn der Autor mindestens einen der beiden Punkte erfüllt, dann ist der Roman definitiv lesenswert. Doch wenn der Roman nichts davon erfüllt, dann hat man so einen Totalausfall wie „Der unsichtbare Freund“ von Stephen Chbosky vor der Nase. Die Prämisse, die hier ganz am Anfang steht, ist folgende: Ein kleiner Junge (Christopher) zieht mit seiner Mutter in eine neue Stadt. Sie kaufen ein Haus am Wald und bald hat Christopher nicht nur echte Freunde in seiner neuen Schule, sondern auch einen unsichtbaren Freund – nämlich den netten Mann – der ihn in den Wald lockt und ihn überredet, ein Baumhaus zu bauen. Mehr als das wusste ich vor der Lektüre nicht. Nur noch, dass der Autor mit Stephen King verglichen wurde, was für mich als Nicht-King-Leser zwar nicht relevant ist, mich aber zu der irrigen Annahme verleitete, dass „Der unsichtbare Freund“ irgendwie in die Richtung von „The Sixth Sense“ ginge. Ich lag ja sowas von falsch. Christopher ist also sieben und hat Legasthenie, allerdings nur, bis er für sechs Tage im Missionswald verschwindet. Als er wieder auftaucht, ist er superschlau. Er liest, er rechnet, er sagt die Lottozahlen voraus (wirklich). Und er baut heimlich ein Baumhaus (komplett mit Treppe, abschließbarer Tür und Glasfenstern – wir erinnern uns, das Kind ist sieben), das sich schließlich als ein Portal in die sogenannte „Fantasiewelt“ entpuppt, in der der nette Mann versucht, die zischende Lady davon abzuhalten, alle Menschen der verschlafenen Kleinstadt, in der dieser Roman spielt, am Weihnachtstag umzubringen. Oder so scheint es zumindest. Als dieses Tableau erst einmal aufgebaut ist, reiht Chbosky über weite Strecken nur noch ein Horror-Setpiece an das nächste, ohne dass die Szenen irgendeinem Zweck dienen (außer dem des Schockeffekts) oder logisch miteinander verknüpft wären. Oftmals habe ich mich verwirrt gefragt, wie ein Charakter denn nun an diesen oder jenen Punkt gelangt ist, wenn er doch eben noch ganz woanders war. Und ja, die Horrorszenen sind wirklich gruselig, das mag ich zugeben. Aber auch das wird irgendwann einfach nur noch anstrengend und grotesk und wiederholt sich endlos, ohne eben irgendwohin zu führen. Ich würde auch behaupten, ich bin ziemlich hart im Nehmen, aber bei einem Autor, der nicht einmal davor zurückschreckt, seinen siebenjährigen Protagonisten bei vollem Bewusstsein auf einen OP-Tisch zu schnallen, kommt selbst mir die Galle hoch. Und dabei mag ich Kinder nicht mal besonders. Und obwohl ich Kinder nicht besonders mag und sich meine Berührungspunkte mit Siebenjährigen stark in Grenzen halten, würde ich behaupten, dass Chbosky noch weniger Ahnung von Jungs in diesem Alter hat als ich. Keines der Kinder benimmt sich dem Alter entsprechend. Von ihrem Verhalten und vor allem ihrer Sprache her sind sie mindestens doppelt so alt. Also auch hier ein ganz klarer Minuspunkt. Ein ebenso großer Minuspunkt ist der christlische Eintopf, den Chbosky seinen Lesern vorsetzt. Nicht nur erwartet man das als Horrorleser nicht und ist dementsprechend genervt, sondern das religiöse Geschwafel erdrückt irgendwann auch die ohnehinn sehr dünne Handlung. Und als der ganze Roman dann auch noch religiös „aufgelöst“ wird (mehr möchte ich nicht dazu sagen, vielleicht möchte ja tatsächlich doch jemand das Buch noch lesen) und die Quintessenz kaum mehr ist als „Liebe besiegt alles“, werde ich glatt von ganz vielen, ganz unchristlichen Gedanken übermannt. Für diese superbanale Erkenntnisse habe ich mich jetzt durch 600 Seiten Roman gekämpft? Ernsthaft? Mal ganz davon abgesehen, dass seine Theologie halt einfach keinen Sinn ergibt … Genauso schlecht wie der Plot ist das schriftstellerische Niveau des Autors. Wie so oft merkt man beim lauten Lesen sofort, ob ein Text funktioniert. Mir hat David Nathan das Buch vorgelesen, doch nicht einmal dieser begnadete Sprecher kann den Roman retten. Die simplen und sich ständig wiederholenden Subjekt-Prädikat-Objekt-Konstruktionen haben mich ziemlich schnell aggressiv gemacht: Mary Katherine machte dies. Mary Katherine dachte das. Mary Katherine fuhr Auto. Junge, stell’ doch mal deine Sätze um, das ist einfach nur grauenhaft! Wir sind hier schließlich nicht in der zweiten Klasse. (Okay, die Protagonisten schon, aber trotzdem.) Und dann die schier endlosen Vergleiche. Bei Chbosky regnet es nicht einfach. Es regnet wie irgendwas. Es ist auch nicht warm. Es ist warm wie irgendwas. Beispiele gefällig? „In seiner Schulter dehnten sich die Sehnen wie Toffee.“ „Die Ereignisse reihten sich aneinander wie Popcorn um den Weihnachtsbaum.“ „Ihr Sohn war statisch aufgeladen wie ein Luftballon, den man an einem Pullover gerieben hatte.“ Und auch sehr schön: „Der Baum war warm wie ein Babyhintern.“ Diese ständigen sauschlechten Vergleiche bringen Null Mehrwert und haben stattdessen nur zu meiner wachsenden Aggressivität beigetragen. Nun kann es ja vorkommen, dass ein Autor gewisse sprachliche Spleens hat. Dass diese einem Lektorat aber nicht aufgefallen sind, ist erschütternd. Wenn der Verlag wirklich der Meinung war, man müsse dieses Buch auf die Menschheit loslassen, dann wäre es zumindest seine Aufgabe gewesen, die sprachlichen Fallstricke auszubügeln und vor allem, das Manuskript mindestens auf 2/3, besser aber noch auf die Hälfte der Länge einzukürzen. Dann wäre immer noch kein guter Roman dabei herausgekommen, aber zumindest etwas halbwegs Leserliches, das nicht dazu führt, dass man dem Autor alle möglichen Plagen an den Hals wünscht.

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