FrauenLesen
Ich darf mich ja nicht beklagen, da ich ein absoluter Reisemuffel bin. Aber wenn ich irgendwohin wollte, dann nicht nach London oder Irland, worüber ich gerne lese, sondern nach Island. Politisch und gesellschaftlich gesehen frage ich mich, warum schauen wir nicht zu Ländern, die einem positiven Weg folgen. Allein die Familienfreundlichkeit ist traumhaft. 2009 waren 96 % der jungen Väter in Karenzzeit. Die Scheidungsrate ist sehr hoch - Ehe als Institution gibt es nicht mehr. Aber 70 % der unverheirateten Frauen bekommen Kinder. Überstunden sind verpönt. Wer nicht pünktlich nach Hause geht, wird gefragt, ob es Probleme mit der Familie gibt. Ich könnte fortfahren, aber dann schiebe ich Frust, wenn ich sehe, wie es bei uns zugeht. Anne Siegel schreibt über wilde starke Frauen, über ihre Einstellung zu Beruf und Familie und natürlich zu ihrem Land. Kristin Òsk Jónasdóttir lebt als Rangerin ihren Traumjob - er ist ihre zweite Karriere. Kinder hat sie sehr jung bekommen, die sind nun aus dem Haus, sodass sie sich ihren Kindheitstraum erfüllen kann. Agnes Anna Sigurdardóttirs Mann war Fischer, der seinem Beruf nach einem Unfall nicht mehr nachgehen konnte. Dann wurde der Sohn krank. Die Menschen in Island sind zwar alle krankenversichert, doch bei speziellen Sachen müssen sie zuzahlen. Durch die vielen Sorgen wurde sie selbst auch noch krank. Wie sie es schafften, eine Mikrobrauerei zu gründen, ist spannend erzählt. Hulda Gústafsdóttir, Könnerin und Kennerin des Islandpferdesports, deren Pferdeparadies inmitten der Hauptstadt liegt. Ihre Eltern hießen ihre Berufswahl nicht gut. Erst als die Krise über Island hereinbrach, und der Pferdehof von Hulda und ihrem Mann boomte, sah die Mutter ein, dass diese Wahl wohl doch nicht so schlimm war. Hrefna Kristmannsdóttir, Geothermalpionierin, hält ihren Beruf für den schönsten der Welt und Island das beste Land, um ihn auszuüben. Sie braucht besonders gute Arbeitsschutzbekleidung, da sie Temperaturen bis zu 400 Grad ausgesetzt ist. Björk Gudmundsdóttir ist nicht nur eine berühmte Sängerin, sie setzt sich auch aktiv für den Naturschutz in ihrem Land ein. Sie hat sich mit aller Kraft dafür eingesetzt, "dass die Naturschätze ihres Heimatlandes dem ganzen Volk von Staats wegen übertragen werden mögen". - S. 121 Sie hat mit verhindert, dass ein chinesischer Investor den größten Wasserfall Islands kaufen konnte. Vilborg Gissurdóttir ist die größte Abenteuerin Islands und hat sich dem Thema Klimawandel verschrieben. Bryndis Benediktsdóttir ist Chefforscherin im Schlaflabor des Landesspitals vor den Toren von Reykjavik. Sie unterrichtete auch "Narrative Medicine". "Dabei betrachten wir den Menschen nicht länger als Objekt, sondern als ganzen Organismus. Wir nehmen dabei auch die Literatur zu Hilfe, weil wir herausfinden wollen, was das Erzählen von Krankheiten mit dem jeweiligen Menschen zu tun hat. Die Krankengeschichten von Menschen sind mehr als ihre Verletzungen und Kümmernisse." - S. 165 Auf Vestmannaeyjar gibt es ein Vulkanmuseum, dessen Leiterin Kristin Jóhannsdóttir ist. Nachdem sie zuvor in der Anonymität von deutchen Großstädten wie Berlin und Frankfurt lebte, musste sie sich umstellen auf eine kleine Gemeinschaft von Menschen, die hier lten. Sie weiß, was es heißt, einen Inselkoller zu bekommen. In diesem Beitrag erfahre ich etwas Neues über die DDR, in der ich ja geboren wurde. Ich wusste nicht, dass viele isländische Männer dort studiert und ostdeutsche Frauen geheiratet haben, die dann ausgewandert sind. Das war in den 1970er/80er Jahren. Die Freiheit, erst mal zu schauen, ob es ihnen in Island überhaupt gefallen würde, hatten die Frauen nicht. Eine größere Gruppe dieser Frauen lebt heute in Reykjavik. Und noch etwas Interessantes: Das einzige deutsch-isländische Wörterbuch, das es zu dieser Zeit gab, stammt aus Leipzig. Isländische Frauen waren schon vor Jahrhunderten Fischerinnen und Seefahrerinnen. Sie haben sogar die gleiche Bezahlung bekommen wie die Männer. Bis die Dänen kamen und sie zur Anpassung an das dänische Frauenbild zwangen. Heute fahren Frauen wieder zum Fischern, eine von ihnen ist die Seefahrerin Steinunn Einarsdóttir. In den Westfjorden ist das ein Ehrentitel. Katrin Ólina Pétursdóttir ist in der Welt herumgekommen. Seit mehr als zwei Jahrzehnten lebt sie in London, verbringt in diesem Jahr aber viel Zeit in ihrer Heimat Island. Sie ist eine allen bekannte Designerin. Künstler*innen haben in Island einen besonderen Stellenwert. Sie erfahren in Island eine Förderung, wie sie sich unsere Kunstschaffenden nicht zu träumen erhoffen. Nach jedem Kapitel verrät uns Anne Siegel noch den Kraftort der von ihr vorgestellten Frauen. Und auch in diesen kleinen Absätzen erfahren wir noch interessantes, geschichtliches über Island. Durch die Vorstellung all dieser interessanten Frauen werden so viele Themen mit angeschnitten. Sei es Politik, Kindererziehung, Familienplanung, Adoption, Erbrecht, Feminismus: "Feministin ist in Island ein Ehrentitel. Kaum eine Frau sagt von sich, sie sei keine. Selbst die Kritikerinnen des Begriffes dort betonen, das Anliegen sei wichtig, ,bis wir wirklich mit den Männern gleichauf sind!'." - S. 101 Und da es in einem Gespräch schon Missverständnisse gab: Ehrentitel ist hier nicht als einer gemeint, den nur sehr wenige Leute bekommen, weil sie sich verdient gemacht haben. Die isländischen Frauen tragen ihn tatsächlich mit Stolz. Frauenstreik auf Island. In Island selbst wird er Frauenruhetag genannt und wird bis heute als besonderer Gedenktag gefeiert. https://www.boeckler.de/de/magazin-mitbestimmung-2744-frauenstreik-auf-island-28994.htm#:~:text=Heute%20ist%20in%20Island%20der,einige%20M%C3%A4nner%20lassen%20sich%20sehen Wenn ich so lese, wie die Frauen auf Island leben - selbstbestimmt, gleichberechtigt -, dann kann ich gut das Ehepaar verstehen, dass aus München nach Island ausgewandert ist. Da hat man das gleichberechtigte Ehepaar nicht in Ruhe leben lassen. Mir drängte sich beim Lesen die Frage auf, ob es in Island Frauenhäuser gibt: Ja, ein einziges (per Mitte 2018). Ich mag gar keine weiteren Vergleiche anstellen, macht es mir doch nur bewusst, wie viel wir Frauen hier noch aufzuholen haben. Vielleicht sollten wir auch mal einen Tag Frauenstreik einlegen.