cosima73
Früher unabhängig und stolz auf ihre Fähigkeit, mit Sprache umzugehen, verliert Michka nach und ach, was ihr mal wichtig war: Wörter. Eins ums andere lässt sich nicht mehr finden, sie taucht vergeblich danach oder ersetzt es durch ein anderes, ähnlich klingendes. Als das Leben im eigenen Zuhause nicht mehr möglich ist, muss Michka in ein Heim. Die Tage sind lang und einsam, nur zwei junge Menschen besuchen sie regelmässig: Marie, die durch die gemeinsame Vergangenheit fast zu einer Art Tochter geworden war für Michka, und Jérôme, der Logopäde des Heims. „Manchmal muss man sich der Leere stellen, die der Verlust hinterlassen hat.“ Während im Hier und Jetzt immer mehr verloren geht, erinnert sich Michka in ihren Träumen an die Vergangenheit. In ihr wächst der Wunsch, den Menschen noch danke sagen zu können, die sie als kleines Mädchen vor dem sicheren Tod gerettet hatten. Marie und Jérôme versuchen, ihr dabei zu helfen. „Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie oft Sie in Ihrem Leben wirklich Danke gesagt haben? Ein echtes Danke. Als Ausdruck Ihrer Dankbarkeit, Ihrer Anerkennung, der Schuld, in der Sie stehen.“ Delphine de Vegan erzählt auf stille und fast zärtliche Weise die Geschichte einer Frau, die damit konfrontiert ist, immer mehr zu verlieren. Sie braucht dazu keine dramatischen Wendungen, keine Verzweiflungstaten, keine emotionalen Ausbrüche, und doch (oder gerade darum?) drängt die Tragweite dieses Verlusts, der Schmerz, die Verzweiflung aus den Zeilen entgegen, lässt einen mitfühlen. Dabei gelingt es de Vegan trotzdem, eine Leichtigkeit zu bewahren, nicht in die Traurigkeit abzutauchen. Als Leser gleitet man oft gerührt, ab und an schmunzelnd durch die Seiten, taucht ein in ein Leben und lebt mit. Dies vor allem auch darum, weil die Charaktere authentisch und lebensecht gezeichnet sind, was durch die gewählte Erzählform noch verstärkt wird. Die Geschichte wird aus drei Perspektiven erzählt, immer in der ersten Person des jeweils Erzählenden. So blickt man als Leser durch die Augen von Marie, Jérôme und Michka auf das Geschehen und ist nicht nur aussen vor, sondern quasi mittendrin. Dankbarkeit ist ein Buch über das Altern, über den Verlust, aber auch ein Buch über das Leben, die Dankbarkeit und die Kraft des Mitgefühls, des Mit- und Füreinanders. Fazit: Ein leises und zärtliches Buch über eine Frau, die immer mehr verliert und sich dabei der Dankbarkeit besinnt, die sie noch ausdrücken will. Ein Buch, das einen sanft an der Hand nimmt und mitleben lässt. Sehr empfehlenswert.