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monikafuchs

Posted on 27.1.2021

Beim Lesen haben sich mir die Nackenhaare aufgestellt!   John Boyne ist als Autor immer wieder für eine Überraschung gut. Seine ganzen Romane sind inhaltlich so unterschiedlich, dass man nach der Lektüre dieses Romans fast auf dumme Gedanken kommen kann!   Dieser Roman „Die Geschichte eines Lügners“ hat mich schon einfach auf Grund des Autors interessiert – „Der Junge mit dem gestreiften Pyjama“ ist immer noch eins meiner „all time favorite books“, doch auch „Das Haus zur besonderen Verwendung“ über die russische Revolution, „Das späte Geständnis des Tristan Sadler“ über den 1. Weltkrieg und „Der Junge mit dem Herz aus Holz“ ein modernes Märchen für Kinder und Erwachsene über einen Jungen, der wegläuft und auf seiner Reise etwas über Ängste und Mut lernt, fand ich großartig. Und ich habe noch einige Bücher von ihm zu entdecken. Gerade sein 2020 erschienenes Jugendbuch „Mein Bruder heißt Jessica“ interessiert mich sehr. Als mir dann auf Facebook auch noch die Besprechung eines Freundes dieses Buch so richtig schmackhaft machte, habe ich es vorgezogen. Und einmal angefangen, konnte ich es nicht mehr richtig aus der Hand legen. Ich habe mich immer darauf gefreut, wenn ich endlich weiterlesen konnte.   Der Inhalt ist hier bereits gut wiedergegeben. Und es ist von Anfang an relativ klar, dass Maurice Swift ein aalglatter und eigentlich unsympathischer Mensch ist. Die Natur hat es gut mit ihm gemeint. Er ist ausgesprochen attraktiv und wird von Männern und Frauen angehimmelt und begehrt. Dies weiß er sehr gut für seine Zwecke zu nutzen. Es gibt nur wenige Menschen, die ihn gleich durchschauen. Während des Lesens bin ich immer mehr in die Geschichte hineingezogen worden. Mir gruselte vor Maurice und trotzdem wollte ich unbedingt wissen, wie die Geschichte und sein Leben weitergehen. Wird er als Sieger oder Verlierer daraus hervorgehen?   Der Roman ist in drei Hauptteile und zwei Zwischenspiele unterteilt. Jeder Teil wird von einer anderen Person erzählt, aber alle fünf Teile beschäftigen sich mehr oder weniger mit Maurice Swift und seinem Leben als Autor.   Den Anfang macht der Autor Erich Ackermann, der 1988 einen renomierten Literaturpreis gewonnen hat. Es war nicht sein erster Roman, aber sein bisher erfolgreichster. Er stammt aus Berlin, lebt aber seit Kriegsende in Cambridge/UK, wo er an der Universität lehrt. 1988 lernt er auf seiner Lesereise in Berlin Maurice Swift, einen Kellner kennen. Und dieser attraktive Jüngling erweckt seine nie gelebte Homosexualität. Die beiden Männer freunden sich an und im Laufe der Freundschaft erzählt Erich Ackermann Maurice ein dunkles Geheimnis aus seiner Jugend.   Im ersten Zwischenspiel besuchen wir Gore Vidal in seinem Haus in Ravallo/Italien. Gore Vidal und sein Lebensgefährte Howard Austen erwarten den homosexuellen US-Schriftsteller Dash Hardy und seinen Begleiter, einen jungen Autoren, der einen großen Erfolg mit seinem Debüt „Zwei Deutsche“ hatte. Der junge Autor ist natürlich Maurice Swift. Mir hat dieses Kapitel am besten gefallen, weil es so herrlich spitzzüngig und witzig ist. Gore Vidal ist ein amerikanischer Autor, Schauspieler und Politiker gewesen, der laut Wikipedia als einer der intelligentesten amerikanischen Schriftsteller galt. Berüchtigt waren seine humorvollen Gedanken und seine sarkastische Scharfzüngigkeit. Und genau dies hat John Boyne hervorragend übernommen. Ich habe dieses fiktive Geplänkel zwischen Gore Vidal und Maurice Swift genossen.   Im zweiten Hauptteil sind wir inzwischen im Jahr 2000 angekommen. Edith Camberly, die Ehefrau Maurice Swifts, erzählt ihre Geschichte. Sie ist selbst eine erfolgreiche Autorin und gibt gerade ein Seminar zum Thema kreatives Schreiben an der Universität in Norwich. Maurice hat weitere Romane geschrieben, die aber gefloppt waren. Es fehlt ihm an Ideen. Bei diesem Teil war mir zwar relativ früh klar, was passieren würde. Aber es kam dann doch etwas anders, als ich es vermutet hatte. Und die Kaltblütigkeit hat mich dann doch überrascht.   Im zweite Zwischenspiel sind wir in New York, wo Maurice Swift inzwischen mit seinem kleinen Sohn lebt. Er gibt eine vierteljährlich erscheinende Literaturzeitschrift heraus. Sein letzter Erfolg ist schon wieder länger her, aber er arbeitet an etwas neuem. Es war schon sehr interessant, wie Maurice Swift auf die Idee gekommen ist, eine Literaturzeitschrift zu gründen.   Und im letzten Hauptteil bekommt es Maurice Swift mit einem jungen Studenten zu tun, der seine Abschlussarbeit über Maurice schreiben möchte. Maurice schmeichelt dieses natürlich sehr und er willigt ein, sich mit dem jungen Mann zu treffen. Sein letzter Erfolg ist schon wieder einige Zeit her. Der junge Mann, Theo Field, sieht seinem Sohn Daniel erschreckend ähnlich. Und er ist erschreckend effektiv, einiges aus Maurice herauszukitzeln. Hat Maurice hier endlich seinen Meister gefunden? Wirklich faszinierend, wie sich anscheinend die Schlinge zuzieht.   Ich fand diesen Roman faszinierend. Es geht darin nämlich um ein ausgesprochen interessantes Thema. Wie kommt ein Autor auf die Idee zu seinen Büchern. Darf man Geschichten von unbekannten oder bekannten Menschen, die man einmal gehört oder gelesen hat, einfach für seine eigene ausgeben, wenn man sie in einen Roman einbindet und etwas verfremdet? Muss man seine Quellen nennen, oder die entsprechenden Personen, wenn man sie kennt, um Erlaubnis fragen? Hat es jede Geschichte oder jeden Gedanken nicht schon einmal gegeben? Wenn zwei Menschen zusammen etwas schreiben, ist es dann in Ordnung, dass man nur den bekannteren der beiden Autoren als Urheber ausgibt? Dies ist nicht nur eins der Themen dieses Romans, sondern kam auch im wirklichen Leben schon vor. Mir fallen hierzu F. Scott Fitzgerald und seine Frau Zelda ein. F. Scott Fitzgerald hat gerne ganze Textpassagen aus den Briefen seiner Frau ohne ihre Erlaubnis in seine Romane eingebunden. Und einige Kurzgeschichten, die unter seinem Namen erschienen sind, hat in Wirklichkeit Zelda Fitzgerald geschrieben. Nur die Verlage zahlten natürlich mehr, wenn sie von F. Scott stammten. Zelda kannte ja zu diesem Zeitpunkt niemand.   Es geht also um die Moral beim Erzählen von Geschichten. Wem gehören die Geschichten. Und wie erkennt man, ob etwas geklaut wurde? John Boye hat dieses Thema brillant in seinem Roman abgehandelt. Dieser Roman ist kein Krimi, aber er liest sich wie einer. Eine geniale Geschichte, die mich an die Romane von Katherine Kressman Taylor „Adressat unbekannt“. Joel Dicker „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ und Patricia Highsmith „Der talentierte Mr. Ripley“ erinnert, aber eben auch an F. Scott Fitzgerald und Zelda. Zelda hat übrigens zeitlebens ihres kurzen Lebens mit diesem „Diebstahl“ gehadert.   Ach ja – und ich möchte jetzt unbedingt etwas von Gore Vidal lesen. Leider sind viele seiner Bücher auf Deutsch nicht mehr lieferbar.

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