jankuhlbrodt
Man könnte meinen, der Lockdown ist die Zeit für dicke Romane. Man hat ja sonst nix zu tun, und wir verfügen über elektrisches Licht. Wir können also Lesen, auch wenn die Welt um uns herum nur wenige Stunden beleuchtet ist. Wir ziehen uns in Lichtkegel zurück. Komischerweise machte ich die Beobachtung, dass dicke Romane bei mir nur selten funktionieren. Ich bemühe mich, aber lese die unüberschaubaren Textmassen doch wie kürzere Prosa. Vielleicht bin ich zu sehr Walsersozialisiert. Robert Walser natürlich und weniger Martin. Und diese Sozialisierung führt mich notwendig zur Lektüre bestimmter Autoren. Klaus Johannes Thies hat in der Edition Azur einen weiteren Band mit Kurzprosa vorgelegt. Es ist der zweite, den ich kenne, wiewohl es nicht der zweite des Autors ist. Aber wer kann schon alles kennen. Doch wenn man zwei Bücher von Thies las, will man alle kennen. Eins lässt einen Interesse entwickeln, nach dem zweiten jedoch besteht die Gefahr, dass aus dem Interesse eine Sucht wird. Und es ist ja letztlich das Wollen und Sehnen, das die Zukunft gestaltet, wie es das Können war, das die Vergangenheit prägte. 2018 erschienen die „Parkplatz-Rhapsodien“ in der Edition Azur. Es waren Prosastücke, die immer wieder den Blick auf einen Parkplatz beschrieben, der vor dem Fenster des Icherzählers lag. Schneckengleich zog sich die Handlung in den Blick zurück. Aber sie kam dort nicht zum Erliegen. Der eingeschränkte Bewegungsraum jedoch erzeugte eine enorme Intensität. Und jetzt erschien im gleichen Verlag der Band „Tango ohne Argentinien“. Und darin findet sich auch eine Referenz an Robert Walser. Eine Prosastück, das im Titel das ganze Walsersche Konvolut trägt und das als programmatisch für die Lektüre des Thiesschen Werks gelten kann. „Mit einem Strich ist der Geschmack wieder in Sicherheit, und auch die Kritiker beginnen freundlich ihre Köpfe zu wiegen, denn sicher sind sie sich nie.“ Wie sollte man sich auch sicher sein, wenn ein Blick aus dem Fenster den Ort der Handlung an eine vollkommen andere Stelle verlegt. Da kann man ihr nur verwundert folgen. Und im Handumdrehen findet man sich auf einer griechischen Insel wieder. Aber man lernt, und man lernt die Unsicherheit zu genießen. Das sind kurze Stücke im Buch, die passen locker in die Achseltasche, könnte man denken. Dann stellt sich aber heraus, dass die Achseltasche immer mehr ausbeult. Und aus den kurzen Stücken ergeben sich Welten. Sie sind nicht das Schild an der Tür, sie sind die Tür selbst und das, was dahinter sich öffnet, wenn sie sich öffnet. Sie geben den Weg frei, die Stücke, Erkundungen im Bleistiftgebiet, wie es eben schon bei Robert Walser heißt. Die Welt zeichnen, die Welt nachzeichnen mit wenigen Strichen, aber über den Rand hinaus. Und im Nachwort analysiert Mirko Bonné diesen Blick.