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daslesendesatzzeichen

Posted on 25.1.2021

Was passiert mit einem, wenn die Basis für den Alltag, das Konstrukt, der Überbau, alles, was sinngebend war, auf einen Schlag wie hinter einem Schleier verschwindet, weil die Person, die das Zentrum dieses Mikrokosmos darstellte, einfach geht? Diese bittere Erfahrung muss die weibliche Hauptfigur Diane in diesem Roman machen. Was wir hier lesen, ist ihr Tagebuch, das sie zu einer Zeit schreibt, als es ihr endlich wieder besser geht, aber das hat, wie sie selbst zugibt, Jahre gedauert. „Er hat mit diesen Worte nicht mich getötet, aber die Person, die ich mir vorgestellt hatte, in seinen Augen zu sein.“ Weiter sagt sie: „Nur wenige Worte, und ich verlor jeden Halt. Ich stürzte hinab und konnte mich nirgendwo festhalten.“ Diane wird von Jacques genau dann verlassen, als das letzte Kind ausgezogen ist und Diane diese entstandene Lücke noch nicht wieder geschlossen hat. Sich nach Jahrzehnten der Lebenshilfe, als Fels in der Brandung, als Ratgeber für die eigenen Kinder in der Situation zu befinden, in der man nicht mehr weiß, welche Daseinsberechtigung man eigentlich noch hat, nun, nachdem einen keiner mehr braucht, das ist ein Schock. Nicht wenigen Eltern, meist sind es ja noch immer klassisch die Frauen, die die fürsorgliche Rolle übernommen haben, geht das so – Diane ist also kein Einzelfall. Aber genau in dieser verletzlichen Phase der Neuorientierung alleingelassen zu werden, ist bitter. Ich habe das Szenario im eigenen Umfeld erlebt, allerdings verließ dort die Frau den Mann, und es ist nicht schön mitzuerleben, wie einer Person der Boden unter den Füßen weggezogen wird und wie sie strampelt und strauchelt, wieder fällt, wieder aufsteht, um schließlich, wenn es gut läuft, mit weichen Knien und am ganzen Leib schlotternd doch noch endgültig zum Stehen zu kommen. In einer Art Schockstarre ist Diane stundenlang auf dem Sofa sitzengeblieben, auf dem sie saß, als ihr Göttergatte ihr die neuesten Informationen zuteilwerden ließ. Sie saß dort regungslos die ganze Nacht, mit eingeschlafenen Gliedmaßen, unfähig, etwas zu tun. Als Erstes würde ich das Sofa wegwerfen, das ich in meiner Erstarrung vollgepinkelt hatte. Als sie aus ihrer Trance erwacht, stellt sie sich komplett angezogen unter die Dusche, sie fühlt sich so nutzlos, schmutzig, unwürdig, wertlos. Doch dann erwacht ein erster gesunder Impuls: Dann ging ich in den Keller und holte einen Vorschlaghammer. Mit der letzten mir verbliebenen Energie zertrümmerte ich das Sofa und schlug dabei versehentlich ein großes Loch in die Wand. Es fühlte sich gut an. Wäre ich nicht so müde gewesen, hätte ich das ganze Haus zu Staub verwandelt. Als zwei Tage später Jacques anruft, um sie zu bitten, dem Umfeld doch noch ein wenig die alte Normalität vorzugaukeln, zumindest, bis die silberne Hochzeit mit dazugehöriger Fete auf nette Weise über die Bühne gebracht worden war, platzt Diane erneut der Kragen. „Denkst du mal darüber nach?“, bittet er sie – und sie tut ihm den Gefallen. Sie denkt nach. Sie legt sich ein Facebook-Profil an und verschickt stundenlang Freundschaftsanfragen. Nachdem sie abends 129 neue Freunde ihr eigen nennen kann, schreibt sie ihre erste Nachricht. Und wie beschreibt sie diese so schön? Beim ersten Mal muss es unvergleich sein und voll reinhauen. Ein schöner Moment in diesem Buch, den man ein bisschen feiern darf, denn sie befreit sich von den Fesseln des ewigen „Was sollte ich tun, damit alle gut von mir denken?“, als sie all ihren neuen Kontakten auf diesem Wege vom Ende ihrer Ehe erzählt. Die werten Leser merken bereits: Dieses Buch lebt vor allem von seiner Situationskomik und seinem Wortwitz. Frisch und frei von der Leber weg kann die Protagonistin Diane, die den Leidensweg ja bereits erfolgreich gemeistert hat, mit Augenzwinkern und großer Fabulierfreude davon berichten, wie sie sich aus dem tiefen Loch der Trauer Stück für Stück befreite, bis auch sie wieder Lebensfreude empfinden konnte. Dabei wird trotz der humoresken Schreibweise die Ernsthaftigkeit der Situation niemals herabgespielt, niemals wird es zum Klamauk oder zum geschmacklosen Possenspiel. Die Kanadierin Marie-Renée Lavoie berrscht den Balanceakt zwischen amüsant und albern. Die Kinder, die natürlich ebenfalls unter der neuen Situation leiden, denn Papa ist ja gleich zu seiner neuen, jüngeren Freundin gezogen, versuchen trotz eigenem Kummer ihrer Mutter zu helfen. Es dauert lange, bis Diane irgendjemanden an sich ranlässt, weder Familie, noch Freunde. Peu à peu öffnet sie buchstäblich wieder die Türen und lässt Menschen in ihr Leben. Dabei strampelt sie sich von Konventionen frei, wie zum Beispiel von der Beziehung zu ihrer egoistisches Schwägerin, die allen Ernstes glaubt, dass Diane nach einer kurzen Anstandspause doch wieder jeden Mittwoch auf ihre verzogenen Gören aufpassen könnte. Dass Jacques diesen Job übernehmen könnte, der ja ihr Bruder ist, auf diese Idee kommt sie nicht. Auch nicht auf die, sich einfach mal Zeit für Diane zu nehmen und mit ihr ein Glas Wein zu trinken. Diane durchtrennt das familiäre Band souverän und setzt die „Blutsaugerin“ vor die Tür. Es spricht für die Empathie der Autorin, dass sie auch nach einem solchen Showdown nicht, wie es vermutlich in einer amerikanischen Soap passiert wäre, die Protagonistin durch Schnitt und neues Szenario als coole Gewinnerin der Situation darstellt, sondern dass alles realistisch bleibt. Diane erzählt den Vorfall ihrer Freundin Claudine und berichtet ehrlich, dass sie sich danach kein bisschen besser gefühlt hat, sondern den ganzen Abend heulend zugebracht hat. Und so entsteht der Weg, der sich vor Diane auftut, tatsächlich erst beim Gehen. Kein Plan existiert. Es entwickelt sich alles unerwartet. Diane verrennt sich ein wenig in dem gutgemeinten Vorschlag ihrer besten Freundin, sich doch ihrem attraktiven Kollegen im Büro zuzuwenden, der allerdings verheiratet ist. Bevor es zu Schlimmerem kommen kann, kommt Diane zur Vernunft. Sie ist ein wenig wie ein Teenie-Mädchen, das erst spüren muss, wo es hingehört, was es ist und was es sein möchte. Sie muss sich neu erfinden. Dabei geht sie oft zwei Schritte vorwärts und wieder einen zurück, verwirft Ideen, die gut klangen, probiert anderes aus. Sie wird zurückgeworfen, verliert den Job, doch gewinnt auch: den Respekt bestimmter Menschen, eine Katze, ein neues Zuhause, eine neue Lebensform. Wenn es das Schicksal mies mit einem meint, hilft nur: Aufstehen, Krönchen richten, weitermachen. Es gibt keine nennenswerte Alternative. Und selbst, wenn Plan A nicht mehr klappt, gibt es noch viele Möglichkeiten, die man ausprobieren kann, bevor man aufgibt. Ein kleines, mutmachendes Büchlein, genau das richtige für den Sommer …

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